
Ich bin an einem Punkt im Leben, wo eigentlich ein Komma sein sollte.
Mir begegnete der Satz neulich irgendwo im Internet, und ich fand ihn gleich genial. Humor, Leben, spielerischer Umgang mit Sprache …
Ich weiß nicht genau, was sich der kreative Kopf hinter diesem Vers gedacht hat. Mir fällt dazu jedenfalls so einiges ein:
Am Ende
Sackgasse. Plötzlich geht es nicht weiter. Ich bin an ein Ende gekommen, mit dem ich nicht gerechnet habe. Punkt. – Und ich dachte, es geht einfach immer so weiter …
In einem Leben kann sich vieles ereignen: Unfall, Verlust der Wohnung, Krankheit, Behinderung, Verlust des Arbeitsplatzes, Tod eines Angehörigen, Verlust des Partners, finanzieller Ruin, … – Und manchmal verlieren wir sogar unsere Hoffnung.
Oft sind es noch nicht einmal die Umstände, die uns zu schaffen machen, sondern der Zustand unserer Beziehungen und unserer Seele. – Wir hätten doch eigentlich viele Gründe zufrieden und glücklich zu sein, aber trotzdem fühlen wir uns leer. Unsere Seele hungert … und wir wissen nicht, was wir machen können. Wir grübeln, zweifeln und drehen uns im Kreis.
Ich habe das in meinem Leben schon oft erlebt und habe meistens nicht verstanden, wie es sein kann, dass halbwegs intelligente, gut-meinende, vielleicht sogar tief religiöse Menschen in ihrem Leben immer wieder gegen dieselben Wände prallen. – Punkt. Ende. Aus. – Heißt es nicht „die Hoffnung stirbt zuletzt“? Aber wer kann da noch hoffen? Und auf was?
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
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(Bibel, Neues Testament, Paulus‘ erster Brief an die Gemeinde in Korinth, 13. Kapitel, Vers 13)
Punkt.
Ein Punkt in unserem Leben, wo ein Komma sein sollte. – Das kann man auch anders herum sehen: Vielleicht ist ein Grund für so manche Sackgasse in unserem Leben, dass wir immer wieder Kommas setzen, wo eigentlich ein Punkt sein sollte.
Ich liebe dich, aber …
Ich bin ein Mensch, der …
Ich würde ja gerne, aber …
Ich bin zufrieden, obwohl …
…
„Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass …“
(Neues Testament, Lukas-Evangelium 9,61)
Wir machen Entschuldigungen, sind unentschlossen, leben im Konjunktiv („Ich würde / sollte / hätte / könnte …“), machen faule Kompromisse, verzetteln uns, verlieren uns im Theoretisieren, führen endlose Diskussionen, treffen halbherzige Entscheidungen, machen immer wieder andere Pläne, sind hin und her gerissen, …
Ganz – im Hier und Jetzt
»Wenn ihr heute die Stimme Gottes hört, dann verschließt euch seinem Reden nicht!« ….… es ist noch eine vollkommene Ruhe vorhanden für das Volk Gottes..(Hebräerbrief 4,7-9)
Wir verbringen viel Zeit in der Vergangenheit (Schwelgen in Erinnerungen, Grübeln über mögliche Fehler, Leiden unter Schuld, …) und in der Zukunft (Träume, Pläne, Sorgen, Hinausschieben von Aufgaben …). Das hat an sich auch seinen Platz in unserem Leben. Aber die Gefahr ist groß, dass wir den Reichtum und die Möglichkeiten des gegenwärtigen Augenblicks verpassen, wenn wir zu viel in Vergangenheit oder Zukunft leben.
Die Vergangenheit ist vorbei. Wir können sie nicht mehr ändern oder die Uhr zurück drehen, um sie noch einmal zu erleben.
Die Zukunft ist noch nicht da. Wir können auch nicht über sie bestimmen oder zukünftige Ereignisse kontrollieren.
Alles, was wir haben, ist der jetzige Moment. Und das Ruhen im Augenblick schafft eine genauere Wahrnehmung von uns selbst und den Menschen, Lebewesen und Dingen um uns herum. Eine Vertiefung des Lebens. Eine Erweiterung des Bewusstseins.
Ich bin. Ich lebe – jetzt und hier. Punkt.
Aber wer ist das „ich“?
HERR, was ist schon der Mensch! Warum schenkst du ihm überhaupt Beachtung? Warum kümmerst du dich um ihn?Sein Leben ist vergänglich und gleicht einem Schatten, der vorüberhuscht.(Psalm 144,3-4).Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße …(Psalm 8,5-7)
„Haben oder Sein“
Den Titel dieses Buches von Erich Fromm fand ich schon immer toll. Der Inhalt scheint im Wesentlichen auch immer noch hochaktuell zu sein.
Wer bin „ich“?
Wer bin ich wirklich? … unter der Motorhaube? … wenn der Lack oder das Make-up ab ist, und man genauer hinschaut? … wenn meine Statussymbole weg sind? … wenn ich niemanden mehr mit meinem Besitz oder meinem Wissen beeindrucken kann?
… Ihr Heuchler! Ihr seid wie die weiß getünchten Grabstätten: Von außen erscheinen sie schön, aber innen ist alles voll stinkender Verwesung.
(Matthäus-Evangelium 23-27)
Wer ist der Mensch hinter meinen Masken? Ist das, was man kennenlernt, auch dasselbe, was wirklich drin steckt? Bin ich authentisch?
Was liegt da noch alles für Müll in den Tiefen meiner Seele? Woran möchte ich mich lieber nicht erinnern? Sind da noch Leichen in meinem Keller? Gespenster in meinen Alpträumen?
Worüber definiere ich mich?
Definiere ich mich über meine Aktivitäten und Leistungen? – Aber was, wenn ich nicht mehr so aktiv sein kann? Was, wenn meine Leistungen nicht anerkannt werden und vielleicht wirklich nicht so toll waren, wie ich dachte?
Womit identifiziere ich mich?
Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir.
(Paulus‘ Brief an die Christen in Galatien 2,20)
Identifikation und Authentizität. – Die Frage „Wer bin ich?“ ist eine der wichtigsten Fragen in unserem Leben. – Ob Jesus sich diese Frage wohl auch gestellt hat? Vielleicht, als er die 40 Tage in der Wüste war?
… Gott ist Liebe. Wer in der Liebe lebt, lebt in Gott und Gott lebt in ihm.
(Der erste Brief des Johannes, 4,16)
Ton und Töpfer
Biblische Texte benutzen manchmal das Bild des Töpfers. Gott, der Töpfer, formt mit seinen behutsamen und geschickten Händen den Menschen.
Dies ist eine der tiefsten Antworten, die wir auf die Frage „Wer bin ich?“ geben können: Wir sind Geschöpfe Gottes – und wir sind noch im Werden.
Wohl dem, der sagen kann:
Ich bin weicher, formbarer Ton in den Händen meines Schöpfers. Er kann mit mir machen, was er will.
Punkt.
Der Punkt. – Eine runde Sache. 🙂
Lieber Christian, danke für diesen wunderbaren Artikel! Ich bin mir zu 99 % sicher, dass sich Jesus diese Frage in der Wüste gestellt hat, bei der Taufe hat er ja ein spirituelles Erlebnis gehabt: Du bist mein geliebter Sohn! Vielleicht eine erste Erleuchtungserfahrung? Und in der Wüste meditiert er darüber, was es bedeuten könnte, dieser Sohn zu sein… lässt also diese Erleuchtungserfahrung oder sein „Erwachen“ auf sich wirken… und der Teufel hilft ihm dabei, indem er ihm gerade das vorschlägt, was das Sohn-Sein gerade nicht ausmacht. So stelle ich mir das zumindest momentan vor 🙂 Lg
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Danke. 🙂
Vielleicht ist die Erzählung von der Versuchung in der Wüste ja auch eine mythische Verdichtung von etwas, dass seine Jünger von ihm gehört oder mit ihm erlebt haben. Lukas erzählt es ja auch ein klein bisschen anders als Matthäus.
Mich hat die Erzählung schon immer fasziniert, und ich finde mich darin auch irgendwie wieder. Als ich letztes Semester an der Fakultät einen Kurs über biblisches Erzählen belegt hatte, habe ich als Thema meiner Erzählung Taufe & Versuchung gewählt. (Gehört ja irgendwie zusammen.) Hab daraus dann auch gleich einen Artikel auf meinem Blog gemacht. Das ist der im Text verlinkte Artikel: https://schmillblog.wordpress.com/2018/05/07/motiviert-und-voller-energie
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Schöner Artikel! Ich musste dabei auch an Meister Eckhart denken und sein „ohne ein Warum“:
„Wenn man das Leben fragte tausend Jahre lang: „Warum lebst du?“, wenn es überhaupt antwortete, würde es nur sagen: „Ich lebe, um zu leben!“ Das rührt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt, aus seinem Eignen quillt; darum lebt es ohne ein Warum: es lebt nur sich selber!“
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Guten Tag Christian,
ein wirklich tiefgehender und treffender Artikel.
Mir kam beim Lesen immer wieder das Wort/der Gedanke: Vertrauen.
Zum einen ist es das Vertrauen in und zu sich, was wir zwischenzeitlich verlieren können.
Mich baut dann immer wieder auf, daß ich auf Gott vertrauen kann. Auch wenn ich aus meiner irdischen Sicht nicht immer alles überblicken kann, so weiß ich, daß Gott „den etwas besseren Überblick“ hat.
Es recht, wenn dir die dazu passenden Worte geschenkt werden, welche mich bestärken, tragen und vertrauen lassen.
Alles Liebe,
Raffa.
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Lieber Christian, ich lese deine Gedanken gern (und finde viel Gleichklang mit meinen eigenen darin -vielleicht mit dem sachten Unterschied, dass ich mich aus vielen Fragen der „organisierten Religion“ schon etwas länger ausgeschlichen habe – was aber die substanziellen Glaubensfragen im menschlichen Innen nicht relativiert. 🙂 Ein „Ich bin“ ohne Punkt ist für mich einer der allerwichtigsten inneren Friedenspunkte geworden. Interessanterweise kann man es nicht gut mit Worten erklären. Nur spüren. Deine Worte sind aber wunderbare Wegweiser. Danke. Ich schicke dir herzlichste Grüße. 🙂 Jens
ps: Haben oder Sein. :-))
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Herzlichen Dank 🙂 – Dein „Ausschleichen“ finde ich allerdings schade. Eine Zeitlang braucht man das vielleicht, aber es wäre schon gut, wenn möglichst viele in lebendiger Verbindung mit der jüdisch-christlichen Traditionsgemeinschaft diese in die Weite der Zukunft führen würden. Es braucht ja immer Vorreiter, und unsere ganze Kultur ist tief in jüdisch-christlicher Tradition verwurzelt.
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:-)) Danke. Und ja, das sehe ich wie du. Ich bleibe innerlich verwurzelt und am Ball (geht auch gar nicht anders) 🙂 Mit Ausschleichen meinte ich, dass es mich einfach zu sehr ermüdet hat, eine gewisse Art von „grundsätzlicher Diskussion“ zu führen, von der man eigentlich ahnen kann, dass sie nirgendwohin führt. Ich hab vorhin zB mit großem Interesse deinen (großartigen!) Blogeintrag über den Irrtum, die Bibel als „Gottes Wort“ zu verstehen, gelesen. Ich habe mich darüber gefreut und innerlich sofort zu allem genickt, was du geschrieben hast. Die Kommentarspalten dann zu lesen, hat mir dann ziemlich schnell wieder dieses melancholische Gefühl verursacht. Und dies sogar im Bewusstsein dessen, dass sich hier bei dir offenbar kluge und nette Menschen tummeln. 🙂 Mir wird aber immer wieder bewusst, wie dick die schützenden Mauern der Dogmatik sind (dies betrifft aber nicht nur die offiziell-religiösen, sondern auch alle anderen ideologischen Lebensbereiche, kann also durchaus auch in Kleingarten- und Kegelvereinen vorkommen. Und ich möchte damit jetzt auch niemanden kritisieren, denn es bleibt ja psychologische Wahrheit, dass Dogmen in unser aller Leben überaus praktisch sein können) 😉 Ich habe für mich beschlossen, all diese Glaubenswelten stehen zu lassen und mal eine Weile nicht in diese Gesprächsgefechte zu ziehen (aber bitte versteh das nicht falsch, denn ich finde wirklich wunderbar, dass und wie du das machst!) Ich schütze mich selbst derzeit nur ein bisschen (das ist so eine Art meditative Übung)… und nutze hauptsächlich die Kunst, um mich zu artikulieren – in der Hoffnung, dass die Liebe darin ein Ausrufezeichen anderer Art sein mag. Jedenfalls: dein Blog ist ein schöner und kluger Ort, vielen Dank nochmal von Herzen für deine mutigen und guten Gedanken, die allesamt in eine Tiefe weisen, die rein theologisch oder intellektuell ja letztlich gar nicht zu greifen ist. Chapeau, Liebe, Frieden, mehr herzliche Grüße. 🙂 jens
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Danke 🙂 Ich halte Kunst, Musik etc. auch für ganz wichtige Ausdrucksformen. Je komplexer alles wird, desto sprachloser wird man. Danke für deine Arbeit und alles Gute!
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Also dein Kommentar ist wunderbar! Vor allem sehr verständlich!
Es fällt einem schwer hier noch was zu sagen, es ist für mich alles gesagt.
Herzlichst grüßt Hartwig
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Herzlichen Dank 🙂
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