Ist die Bibel euer „Goldenes Kalb“?

 

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Nicolas Poussin [Public domain], via Wikimedia Commons

 

Als Mose so lange Zeit nicht vom Berg herabkam, versammelten sich die Israeliten bei Aaron und forderten ihn auf: ‚Mach uns eine Götterfigur, die uns den Weg zeigt! Wer weiß, was diesem Mose zugestoßen ist, der uns aus Ägypten herausgeführt hat!‘ Aaron schlug vor: ‚Eure Frauen und Kinder sollen ihre goldenen Ohrringe abziehen und zu mir bringen!‘ …

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Er nahm den Schmuck entgegen, schmolz ihn ein und goss daraus ein goldenes Kalb. … Als es fertig war, schrien die Israeliten: ‚Das ist unser Gott, der uns aus Ägypten befreit hat!‘ Daraufhin errichtete Aaron einen Altar vor der Götterfigur und ließ bekannt geben: ‚Morgen feiern wir ein Fest zu Ehren des Herrn!‘

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(Bibel / Tanach / Altes Testament, Schemot / Exodus / 2. Mose, 32. Kapitel, Verse 1-5)

 

Das „Goldene Kalb“

Eigentlich war das sogenannte „Goldene Kalb“ wohl eher ein goldener Jungstier. – Symbol der Kraft und der Macht.

Diese Erzählung aus dem zweiten Buch unserer Bibeln fasziniert mich schon lange. Irgendwie hatte ich früher die Idee in den Kopf gekriegt:  Aha, da sind die Israeliten also so kurze Zeit nach all den Wundern von Gott abgefallen und haben sich heidnischen Götzen zugewandt. Diese Idee war aber falsch.

 

Das ist unser Gott, der uns aus Ägypten befreit hat! … Morgen feiern wir ein Fest zu Ehren des Herrn!“

(Vers 4-5)

 

Das wartende Gottesvolk

Die Israeliten werden unsicher und unruhig, als Mose länger braucht, als sie erwartet haben. Wie ein kleines Kind (oder auch wir Erwachsene) suchen sie Halt, Sicherheit, Stabilität. Und den Fokus der Sicherheit, den sie sich dann selbst erschaffen, ist nicht ein heidnischer Götze, an den sie sich anstelle Jahwes wenden, sondern es ist eine Vergegenständlichung Jahwes, ihres Gottes : „Das ist unser Gott, der uns aus Ägypten befreit hat! … Morgen feiern wir ein Fest zu Ehren des Herrn!“ (Vers 4-5).

Es gibt nicht nur materielle Gottesbilder, sondern auch sprachliche, bei denen nicht mit Gold, Stein, oder anderem Material ein Bild von Gott gemacht wird, sondern mit Worten. Die Ehrfurcht im Judentum vor dem Aussprechen des Gottesnamens könnte für uns schon ein Hinweis darauf sein, wie problematisch es ist, Gott auf sprachliche Weise zu benutzen und für sich zu vereinnahmen.

 

Spöttisch werden sie euch fragen: »Wo ist denn nun euer Christus? Hat er nicht versprochen, dass er wiederkommt? Schon unsere Vorfahren haben vergeblich gewartet. Sie sind längst gestorben, und alles ist so geblieben, wie es von Anfang an war!« …
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Wenn manche also meinen, Gott würde die Erfüllung seiner Zusage hinauszögern, dann stimmt das einfach nicht. Gott kann sein Versprechen jederzeit einlösen. Aber er hat Geduld mit euch …
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So erwartet ihr diesen Tag, an dem Gott kommt, und tut alles dazu, dass er nicht mehr lange auf sich warten lässt …
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Wir alle aber warten auf den neuen Himmel und die neue Erde, die Gott uns zugesagt hat. Wir warten auf diese neue Welt, in der endlich Gerechtigkeit herrscht.
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(Neues Testament, Zweiter Brief von Petrus, 3,4-13)

 

Wartende Christen

Wir können schon in den Texten des Neuen Testaments erkennen, wie die ersten Christen unsicher wurden, als Jesus nicht wiederkam, um das Reich Jahwes aufzurichten. Heute sind fast 2000 Jahre vergangen, und Jesus ist immer noch nicht wiedergekommen.

Wir haben uns allerdings in der Zwischenzeit selbst ein Buch gemacht, dass uns Sicherheit gibt und ein Dogma der Unfehlbarkeit der Bibel formuliert. Ein handfestes Buch, das wir fest im Griff haben, und in dem wir schnell Antworten auf unsere Fragen nachschlagen.

 

Jetzt sehen wir nur ein undeutliches Bild wie in einem trüben Spiegel. Einmal aber werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.
Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Von diesen dreien aber ist die Liebe das Größte.
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(Paulus‘ erster Brief an die Christen in Korinth, 13,12-13)

 

Ich und meine Bibel

Es gibt ein Gemeindelied, dass ich eigentlich immer noch mag. Und wenn man daran denkt, dass bis heute Christen ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Bibel zu verbreiten, kann man verstehen, warum jemand solch ein Lied schreiben würde. Aber z.B. in der letzten Zeile (ausgerechnet) geht es eindeutig über die Verehrung hinaus, die wir diesem Buch entgegenbringen sollten:

 

KANN NIMMERMEHR DICH LASSEN

1) Kann nimmermehr dich lassen, mein teures Bibelbuch,
Ich fand darin den Heiland, der meine Sünden trug.

Ref.: Nimmermehr, nimmermehr laß ich von meiner Bibel.
Nimmermehr, nimmermehr laß ich mein Bibelbuch.

2) In Trübsal und Verfolgung, in Kummer, Leid und Schmerz
quillt nur aus meiner Bibel, mir Trost ins wunde Herz.

3) Zielt mit dem gift’gen Pfeilen auf mich der Seelenfeind,
greif ich zu meiner Bibel, und Kreuzeslicht mir scheint.

4) Muß bis aufs Blut ich ringen heiß in Gethsemane,
so bringt mir meine Bibel des Heilands Friedensnäh.

5) Drum kann ich dich nicht lassen, geliebtes Bibelbuch,
dein Reichtum schenkt mir alles, was immer ich auch such!

(Text: W. Fetler)

 

[Für diejenigen, die das Lied nicht kennen: Ich hab‘ das Lied im Liederbuch „Jesu Name – nie verklinget“ (Band 1) kennengelernt, welches wir die meiste Zeit in meiner Gemeinde benutzt haben, als ich aufwuchs. „Jesu Name …“ war wahrscheinlich eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Liederbuchreihen aller Zeiten. Jesu Name 1 kann man noch kaufen und wird verlegt vom Hänssler-Verlag (evangelikaler Mainstream).]

 

Die Bibel als Götze

Es ist eine feine Linie zwischen einer guten und einer bösen Verehrung der Bibel, und vielleicht können wir nicht einmal selber immer genau sagen, auf welcher Seite wir stehen. Eine der grundlegendsten Fragen für alle Frommen ist:  Will ich Gott für meine Bedürfnisse und Zwecke benutzen oder ihm vertrauen und mich von ihm benutzen lassen?

Die Israeliten am Berg Sinai machten sich ein goldenes Kalb. Die Kirche erschuf sich die Bibel. Und in den endlosen Diskussionen der Christenheit erscheinen diese Texte immer wieder als heilige Kuh.

Die Bibel ist für mich unendlich wertvoll, weil ich durch sie Jesus kennengelernt habe. Und Christ sein bedeutet, diesem Jesus hinterher zu laufen und von ihm zu lernen, Gott so zu vertrauen, wie er ihm vertraut hat. Dann können unsere heiligen Texte für uns und andere auch zu heilsamen Texten werden.

 

6 Kommentare zu „Ist die Bibel euer „Goldenes Kalb“?

  1. Guten Abend Christian,

    danke für deinen gelungenen Denkanstoß.
    Ich habe auch so mein Problem mit dem „Absolutieren“ durch den Menschen.
    Es ist vielleicht ein allzu menschliches Bedürfnis, Dinge „festzumachen“ und, Verzeihung, kleinen Kindern gleich suchen wir etwas, an dem wir uns festhalten können.
    Nicht nur daß das Leben (für uns) unbegreiflich erscheint, was machen wir dann erst mit Gott…?
    Nur im bewußten Erleben bis hin zum (zielgerichteten) Handeln und Tun kommen wir in einen „lebendigen Dialog“ mit Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist – wobei die Bibel hilfreich sein kann. Wie du schon sagtest, der Grad ist klein, „eine feine Linie“, wie auch der Weg in der Nachfolge ein schmaler ist… und ein individueller, der jedoch zum gleichen Ziel führt.

    Alles Liebe,
    Raffa.

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  2. Hallo!
    Danke für den Text, einige Gedanken kann ich gut nachvollziehen und die Gefahr, die Bibel unangemessen zu verehren, besteht gewiss.
    Die Interpretation, dass es sich bei dem Goldenen Kalb allerdings „lediglich“ um eine Vergegenständlichung Jahwes handele und nicht um einen Götzen, kann ich nicht teilen. Psalm 106, 21 heißt es: Sie vergaßen Gott, ihren Heiland… Dann war das goldene Kalb nicht nur eine Verbildlichung Jahwes, sondern ein Ersatz für Jahwe.
    Und noch einen Satz kann ich nicht teilen: die Israeliten machten sich das goldene Kalb, die Kirche erschuf sich die Bibel. Die Kirche hat doch nicht die Bibel erschaffen! Gewiss, Menschen haben sie geschrieben, aber Gott hat sie verantwortet. Das Goldene Kalb war etwas Widergöttliches, die Bibel hingegen ist gottgegeben. Also: auch wenn ich die Gefahr der (unsachgemäßen) Verehrung der Bibel durchaus auch sehe, würde ich die Parallelisierung von Goldenem Kalb und Bibel kritisch sehen.
    Viele Grüße!
    David

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    1. Ich denke, eine Vergegenständlichung Jahwes ist ein Götze. Kein heidnischer Götze, sondern sozusagen ein „selbstgemachter“ Götze des Volkes Gottes. Ein toter Ersatz für den lebendigen Gott, auf den sie nicht länger warten wollten. – Und mit der Bibel ist das so eine Sache. Es gibt, meines Wissens, sowohl in den biblischen Texten selbst, als auch in der Geschichte keine Hinweise darauf, dass Gott die Bibel gemacht hat. Man kann den Prozess der Kanonbildung historisch allerdings schon so ziemlich nachvollziehen; und da hatte nun mal die Kirche und anscheinend auch der römische Kaiser seinen Einfluss. – Auch haben viele biblische Texte selbst überhaupt nicht den Anspruch, dass Gott sie gemacht hat.

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  3. Ich wuchs in einem Dorf in BW auf. Aldingen bei Trossingen. Tiefster Pietismus neben offiziellen Amtskirchen soweit es Lutheraner betraf.

    Übertriebene Frömmigkeitsstile gab es dort in Massen. Sei es das damals uns mit schrecklichen Schlagerschnulzen und Predigten „erweckende“ Janz-Team (ca 1971), 14 Tage Abend für Abend, sei es der Priester, dessen Weltuntergangspredigten viele zu Bunkerbauten veranlassten, bis er in eine Nervenklinik kam. Ich erlebte diesen wundervollen Nervenkranken leider nicht mehr, weil ich im Alter von 10 von meinen Eltern ins Exil nach Bayern verschleppt wurde.

    Schwester Hildegard, eine zölibatär lebende Diakonisse in Tracht erteilte Religionsunterricht. Oft begleitete sie sich zur Gitarre. Sie sang recht gut und war freundlich zu uns Kindern. Auch ich wollte Gitarrenspiel erlernen. Später fand ich einen Klassik-Lehrer.

    Doch der nachhaltige Eindruck der Dorfkirche prägte. Mit Freude studierte ich Jahrzehnte später Theologie.

    Nachfolge Jesu ist für mich eine gut gemeinte pseudofromme Phrase. Er lebte und wirkte fast in der Steinzeit. Doch prägten viele biblische Geschichten und die erstaunliche Präsenz einer Vorstellung Jesu, die vielleicht Verfilmungen und Oratorien geschuldet ist, mich nachhaltig.

    Der oft bemühte und zumindest von dem Jesus der Evangelien beworbene Glaube ist mir zu sektiererisch. Die Freude an biblischen Texten und fortgesetztes autodidaktisches Studium bereichert mich noch heute. Romane wie „Josef und seine Brüder“ beweisen, die Stoffe sind nach wie vor erzählerisch und schreiben sich neu.

    Eine intensive mystische Phase meines Lebens ist mir nach wie vor wichtig. Für mich ist ein Goldenes Kalb jede Art verabsolutierter Religiosität, der eine individuelle Gottesbegegnung fehlt, die sämtliche Dogmen wegwischt.

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  4. Nur „Jesus-Schlümpfe“ haben Angst vor Gott und verharren lieber stattdessen in ihrem Lobpreisgebrummel.

    Rudolf Otto beschrieb in „Das Heilige“ aus eigener Erfahrung, wie erschreckend und faszinierend zugleich solch eine „Begegnung“ sich anfühlt. Man wird sie nie vergessen.

    Mystik als Schatz durch Lektüre mystischer Schriften ist ungeheuer reichhaltig. Selbst noch im Vergleich mit der Riesenlandschaft diverser Theologien von einem geradezu universellen Ausmaß verschiedenartigster Ausdrucksformen.

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