
Ein Klassiker
Einer der klassischen Texte zum Thema „christliche Gemeinschaft“. Dietrich Bonhoeffer schrieb ihn im Herbst 1938. Mit dem 70. Todestag ist der Urheberrecht-Schutz erloschen. Man findet den ersten Abschnitt des Büchleins z.B. online hier, und eine Leseprobe beim Brunnen-Verlag und Gütersloher Verlagshaus.
[Ich habe für diesen Artikel die Gütersloher-Verlagshaus-Version benutzt. – Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsames Leben; Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 1987; 28. Aufl., 2006]
Auf dem Portal „lehrerbibliothek.de“ heißt es zum Buch:
„Dietrich Bonhoeffer war nicht nur der politische Widerstandskämpfer, als der er in die Geschichte eingeht. Er war vor allem Theologe – und er war auch sehr fromm. Das wird in diesem Band deutlich: das von Bonhoeffer geleitete Predigerseminar und Bruderhaus in Finkenwalde ist der ‚Sitz im Leben‘, wo angehende Pfarrer 1937 das ‚gemeinsame Leben‘ zu praktizieren versuchen, – das Leben einer christlichen Gemeinschaft in evangelischer Perspektive. Erst angesichts der Schließung des Predigerseminars durch die Geheime Staatspolizei formuliert Bonhoeffer diesen Text, der 1939 in der Reihe ‚Theologische Existenz heute‘ erscheint.“
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(Thomas Bernhard für lehrerbibliothek.de)
Der Umschlagtext
„Im Zentrum dieses Textes steht die Beschreibung und Begründung einer spirituellen Praxis, die nicht die Auslöschung des eigenen Ichs zum Ziel hat, sondern vielmehr „den einzelnen frei, stark und mündig“ machen und zu christlich verantwortetem Handeln im Alltag befähigen will.“
„Den einzelnen frei, stark und mündig machen“. – Ich bezweifle, dass das Buch dazu geeignet ist.
Ein enttäuschter Leser
Vor mehr als 30 Jahren hörte ich zum ersten Mal, wie jemand das Buch erwähnte, und seit dem hörte ich den Titel immer wieder mal. Oft wurde es hoch gelobt. Jetzt hab ich mir endlich die Zeit genommen, es zu lesen, und bin enttäuscht, und frage mich, ob ein Grund für die positiven Bewertungen des Buches nicht eher die Sehnsucht nach tiefer, gesunder Gemeinschaft ist, als der echte, praktische Nutzen des Buches.
Vorwort / Nachwort
Interessant zu lesen ist das Nachwort von Eberhard Bethge in der hier genutzten Ausgabe des Gütersloher Verlagshauses. Er erzählt dort u.a. von der Ausgabe des Buches in den USA.
Die Brunnen-Verlag-Ausgabe hat eine Einführung von Peter Zimmerling (Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger in Leipzig).
Denkvoraussetzungen
Wir alle entwickeln unsere Vorstellungswelt aus den Erfahrungen, die wir schon gemacht haben. So musste es natürlich auch bei Bonhoeffer sein. Sein theologisches Verstehen ist geprägt durch seine Erfahrung von Christentum und Kirche:
„Es ist Gottes Gnade, dass sich eine Gemeinde in dieser Welt sichtbar um Gottes Wort und Sakrament versammeln darf.“ (Seite 16)
Kirchliches Christentum
Ein evangelischer Christ denkt hier wahrscheinlich an Predigt, Taufe, Abendmahl und Bibel; traditionell liturgisch gestaltet und kirchlich geregelt. Doch nicht alle Christen heutzutage und in der Geschichte der Christenheit haben dies so erlebt. – Wir brauchen uns nur die neutestamentlichen Texte selbst anschauen. – Auch das Wort „Sakrament“ ist nicht gerade ein biblischer Begriff.
Menschliche Erfindungen sind uns verfügbar und lassen sich auch gut durch Menschen verwalten. Mit Gottes Wort, Gottes Reden an uns persönlich, und seinem Wirken in unserer Welt ist es da schon viel schwieriger. Wir können nicht über Gott verfügen …
„Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist..Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden..Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“.(Bibel, Neues Testament, Johannes-Evangelium, 3. Kapitel, Verse 6-8)
Wo bleiben die Frauen?
Bonhoeffer redet durchgängig immer von Brüdern und brüderlich. Man kann sicherlich behaupten ( in guter biblischer Tradition 😉 ), dass hier die Frauen immer mitgedacht sind; dennoch macht es mich misstrauisch.
Das Fehlen des Weiblichen ist sicherlich auch Beleg für eine Theologie, die damals noch stärker von Männern bestimmt war, als es heute leider immer noch der Fall ist. – Vielleicht sollte man das Buch besser als einen Vorschlag Bonhoeffers zu männlicher Spiritualität auffassen.
„Der Mensch rief den Namen seines Weibes: Chawwa, Leben! Denn sie wurde Mutter alles Lebendigen.“
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(Bibel / Tanach / Altes Testament, Bereschith / Genesis / 1. Mose 3,20)
Vielleicht ist dies ja sogar gerade ein grundsätzlicher Mangel dieses Buches: das Fehlen einer weiblichen Perspektive. Wenn man bedenkt, welch große Bedeutung Frauen seit jeher in der alltäglichen Gemeinschaft in Familie, Gesellschaft und religiösen Gemeinschaften haben (man denke nur an die Jüngerschaft von Jesus oder die ersten Christen), dann ist dies ein gravierender Mangel.
Auch das praktische Leben und Erleben von Gemeinschaft und die Kommunikation untereinander funktioniert bei Frauen wohl oft etwas anders als bei Männern. – Hätte eine Frau wohl so ein Buch geschrieben?
„Gemeinschaft“
(Erster Abschnitt des Buches)
„Christ ist der Mensch, der sein Heil, seine Rettung, seine Gerechtigkeit nicht mehr bei sich selbst sucht, sondern bei Jesus Christus allein.“ (S. 18)
Mystische Verbundenheit in Christus
Dies ist ein wichtiger Punkt in dem Buch: Allein durch Gnade und Glaube besteht in Christus schon eine tiefe Verbundenheit zwischen Christen, auch wenn diese nicht gefühlt wird. Wir müssen diese Verbundenheit auch nicht selbst produzieren, sondern sie ist in Christus gegeben.
(Es gibt allerdings eine noch grundlegendere Verbundenheit aller Menschen durch unser Menschsein. Dazu sagt Bonhoeffer gar nichts.)
Darüber hinaus verleiht uns der christliche Glaube allerdings auch eine kulturelle Grundlage des Verstehens und macht uns zu einer Diskurs- und Wertegemeinschaft. Erzählungen, Bilder, Symbole etc. lassen ein dichtes kulturelles Gewebe zwischen uns entstehen, das uns verbindet.
Die Verbundenheit durch die Überlieferung von Jesus ist sicherlich einer der großen Vorteile christlicher Gemeinschaft – aber gleichzeitig auch eine große Gefahr.
Der Vorteil ist ein christliches Selbst-Bewusstsein, das ein Wissen um die eigene Mangelhaftigkeit und Abhängigkeit mit einschließt. Christen sind eigentlich grundsätzlich offene Menschen (oder sollten es sein), weil sie wissen, dass sie Hilfe brauchen – immer wieder.
Die Gefahr besteht in Abhängigkeit. Denn wir können Jesus nicht mehr als Menschen begegnen und mit ihm leben, so wie es seine Jünger getan hatten. Wir erfahren Jesus vermittelt durch die Überlieferung und die Gemeinschaft mit anderen Christen – darunter dann auch all die Prediger, Pfarrer, geistlichen Lehrer, Theologen etc.
Bonhoeffer ist grundsätzlich misstrauisch gegenüber dem Leben des Einzelnen, der menschlichen Natur und persönlichen spirituellen Erfahrungen. In den biblischen Texten selbst begegnet uns dies Misstrauen so nicht, und wir finden in ihnen eine Mündigkeit des Einzelnen, die eigentlich ja auch Bonhoeffer sucht.
„… ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt..Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben..Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.“.(Neues Testament, Paulus‘ Brief an die Christen in Galatien 2,19-21)
Diese mystische Christus-Erfahrung von Paulus ist im Gegensatz zur vermittelten Christus-Erfahrung durch die Überlieferung und die christliche Gemeinschaft eine unmittelbare, authentische persönliche Erfahrung. Es ist diese persönliche Erfahrung im eigenen Leben, welche einem Menschen einen festen Stand ermöglicht, auch wenn er allein ist oder unter „Gottlosen“ lebt. Sie knüpft an Traditionen an, aber ist eine eigenständige persönliche Erfahrung. Sie wird erprobt im eigenen Leben und bewährt sich dort.
„Darum gleicht jeder, der meine Worte hört und danach handelt, einem klugen Mann, der sein Haus auf felsigen Grund baut …“
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(Jesus in der Bergpredigt; Neues Testament, Matthäus-Evangelium 7,24)
Ein böses Menschenbild
Bonhoeffer ist noch tief geprägt von einem negativen Menschenbild:
„Das Wesen seelischer Gemeinschaft ist Finsternis – ‚denn von innen, aus dem Herzen des Menschen, gehen heraus böse Gedanken‘. Es ist die tiefe Nacht, die über die Ursprünge alles menschlichen Wirkens und gerade auch alle edlen und frommen Triebe gebreitet ist.“ (S. 27)
Angesichts des Ersten Weltkrieges mit all seinen Grausamkeiten und vor dem Hintergrund des Nazi-Reiches ist diese Einschätzung auch verständlich.
Laut dem Primatenforscher Frans de Waal („Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote“) war es auch in den Sozialwissenschaften erst um die Jahrtausendwende, dass ein eher negatives Menschenbild durch ein eher positives abgelöst wurde. Ein Grund dafür waren Forschungen zur Empathie-Fähigkeit des Menschen.
„Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie.“
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(Bereschith / Genesis / 1. Mose 1,27)
Misstrauen gegenüber dem Individuum
Bonhoeffers negatives Menschenbild resultiert folgerichtig auch in einem großen Misstrauen gegenüber dem einzelnen Christen. Das Heil für den Menschen liegt im von außen kommenden Wort und bei der christlichen Gruppe und Tradition, in der christliche Gemeinschaft erfahren wird. Auch hier ist wieder die Tendenz erkennbar, die einer Mündigkeit des Einzelnen und einem selbstverantworteten Leben entgegenwirkt.
„Weil es ihn täglich hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, darum verlangt er immer wieder nach dem erlösenden Worte. Nur von außen kann es kommen. In sich selbst ist er arm und tot. Von außen muss die Hilfe kommen, und sie ist gekommen und kommt täglich neu in dem Wort von Jesus Christus, das uns Erlösung, Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit bringt.“ (S. 19)
„Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders; jener ist ungewiss, dieser ist gewiss.“ (S. 20)
Sicherlich darf man das letzte Zitat auch nicht nur isoliert betrachten. Dennoch bin ich froh, dass es so nicht in der Bibel steht, denn es lädt ein zu geistlichem Missbrauch jeder Art. – Bibelverse sollte man allerdings natürlich auch nicht isoliert betrachten. – Es klingt so, als ob die persönliche Christus-Erfahrung immer weniger Bedeutung hat als die eines Bruders. – Ein ungesundes Gefälle.
Richtig ist allerdings, dass die Worte anderer für mich unendlich wertvoll sein können; denn durch sie kommen Erfahrungen und Gedanken zu mir, die ich selbst nicht habe und mein Leben wird durch eine zusätzliche Perspektive bereichert.
„… Es ist nicht gut für den Menschen allein zu sein …“
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(Bereschith / Genesis / 1. Mose 2,18)
Dem letzten Zitat von Seite 20 des Buches folgt der Satz:
„Damit ist zugleich das Ziel aller Gemeinschaft der Christen deutlich: sie begegnen einander als Bringer der Heilsbotschaft.“ (S. 20)
Eine typisch lutherisch-kirchliche Reduzierung auf die Verkündigung des Wortes. – Bedeutet christliche Gemeinschaft nicht viel mehr und hat auch ein höheres Ziel?
„Das Ziel der Unterweisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben.“
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(Paulus im ersten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus 1,5)
Der Christ und seine Gefühle
Ich bekomme beim Lesen des Buches immer wieder den Eindruck, dass Bonhoeffer den menschlichen Gefühlen gegenüber zu misstrauisch ist und die kognitiven Fähigkeiten des Menschen überbetont.
„Denn Gott ist nicht ein Gott der Gemütserregungen, sondern der Wahrheit.“ (S. 23)
Aber wie viel Gefühl finden wir im Gegensatz dazu in der jüdischen Kultur und in den biblischen Texten:
„Freut euch immerzu, mit der Freude, die vom Herrn kommt! Und noch einmal sage ich: Freut euch! Alle in eurer Umgebung sollen zu spüren bekommen, wie freundlich und gütig ihr seid …“
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(Paulus‘ Brief an die Christen in Philippi 4,4-5)
Christen und ihre Träume
Auch gegenüber der persönlichen Traumwelt ist Bonhoeffer misstrauisch:
„Gott hasst die Träumerei; denn sie macht stolz und anspruchsvoll.“ (S. 24)
Bonhoeffer möchte alles durch biblische Lehre, christliche Gemeinschaft und Tradition kontrollieren. Aber es ist gerade in den biblischen Texten, wo uns noch eine andere Art von Frömmigkeit begegnet:
„Es kommt die Zeit, da werde ich meinen Geist ausgießen über alle Menschen. Eure Männer und Frauen werden dann zu Propheten; Alte und Junge haben Träume und Visionen.“
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(Bibel / Tanach / Altes Testament, Joel 3,1)
Bonhoeffer und die Psychologie
Die Psychologie in Bonhoeffers Zeit sah sicherlich anders aus als die Psychologie heute. In seiner Einstellung zur Psychologie wird allerdings auch wieder Bonhoeffers tiefes Misstrauen gegenüber dem menschlichen Wesen und menschlichen Fähigkeiten deutlich.
„So regiert dort [in der geistlichen Gemeinschaft] der Geist, hier [in der seelischen Gemeinschaft] die Psychotechnik, die Methode, dort die naive, vorpsychologische, vormethodische, helfende Liebe zum Bruder, hier die psychologische Analyse und Konstruktion, dort der demütige, einfältige Dienst am Bruder, hier die erforschende, berechnende Behandlung des fremden Menschen.“ (S. 28)
„seelisch“ – „geistlich“
Wenn Menschen meinen beurteilen zu können, was „geistlich“ ist und was nicht, werde ich schnell misstrauisch.
Bonhoeffer unterscheidet z.B. zwischen seelischer und geistlicher Liebe und seelischer und geistlicher Gemeinschaft. Seine Ausführungen zur „geistlichen“ Agape-Liebe überzeugen mich allerdings nicht.
Wenn man Bonhoeffers Ausführungen liest, muss man ja glauben, „Agape“ wäre eine christliche Sprachschöpfung gewesen, um die geistliche, christliche Liebe zu bezeichnen, die erst durch den Heiligen Geist seit Pfingsten möglich geworden ist. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Die Verfasser der neutestamentlichen Texte übernehmen den Sprachgebrauch der Septuaginta, in der das griechische Wort „Agape“ ja auch schon benutzt wird.
Gut beobachtet finde ich Bonhoeffers Ausführungen zu den Gefahren von Gemeinschaft aus rein religiösem Anlass:
„Eine Ehe, Familie, Freundschaft kennt die Grenzen ihrer gemeinschaftsbildenden Kräfte sehr genau; sie weiß, wenn sie gesund ist, sehr wohl, wo das Seelische seine Grenze hat und wo das Geistliche anfängt. Sie weiß um den Gegensatz leiblich-seelischer und geistlicher Gemeinschaft. Umgekehrt aber liegt gerade dort, wo eine Gemeinschaft rein geistlicher Art zusammentritt, die Gefahr unheimlich nahe, dass nun in diese Gemeinschaft alles Seelische mit hineingebracht und mit untermischt wird.“ (S. 33)
Allerdings finden wir auch hier wieder die Problematik der Unterscheidung zwischen „geistlich“ und „seelisch“. – Ist nicht gerade das Bedürfnis nach der Sicherheit einer perfekten Theorie/Theologie, mit der ich die Wirklichkeit meines Lebens in den Griff kriegen kann, auch schon ein seelisches Bedürfnis nach Sicherheit? Kontingenz-Bewältigung und Stabilisierung sind ja typische Eigenschaften jeder Religion. – Und ist die Seele des Menschen wirklich so böse und ungeistlich?
„… da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.“
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(Bereschith / Genesis / 1. Mose 2,7)
Nebenbemerkung: Zum Hintergrund der neutestamentlichen Texte
Als die neutestamentlichen Texte geschrieben wurden, vollzog sich in der antiken Welt etwas Dramatisches. Während sich in Palästina jüdische Kultur und Identität gegenüber der römischen Besatzungsmacht zu behaupten suchte, entstanden von Palästina ausgehend christliche Gemeinschaften im Umfeld der jüdischen Synagogen.
In diesen Gemeinschaften feierten Juden und Nicht-Juden Jesus als ihren Messias, die Erfüllung jüdischer Hoffnung. Der christliche Glaube, also Jesus, verband Menschen unterschiedlicher kultureller Tradition. Die damit einhergehenden Konflikte und Spannungen fanden u.a. Niederschlag in den neutestamentlichen Texten.
Während damals der christliche Glaube eine erstaunliche Ausweitung der Gemeinschaft jüdischer Gläubiger war, über ethnische Grenzen hinweg, ist er heute oft Ursache der Abgrenzung von Menschen mit anderen Überzeugungen. Auch Bonhoeffer grenzt christliche Gemeinschaft radikal gegenüber Menschen anderer Überzeugungen ab.
Was Juden und Nicht-Juden in den christlichen Gemeinden damals verband war der Glaube, dass nicht der Kaiser in Rom und sein System die absolute Macht besitzen, sondern der Mann aus Nazareth und der Geist und die Bewegung, die von ihm ausgehen. Liebe und Geist, anstatt weltliche Macht und Gewalt. – Die Frage nach den Grenzen christlicher Gemeinschaft hängt davon ab, wie ich das Wesen des Christentums und die Botschaft von Jesus verstehe.
„Der gemeinsame Tag“
(Zweiter Abschnitt des Buches)
Der Gottesdienst am Morgen
„Der alttestamentliche Tag beginnt mit dem Abend […] Der Tag der neutestamentlichen Gemeinde beginnt mit der Frühe des Sonnenaufgangs […]“ (S. 35)
Jemand, der an jüdisch-christlichem Dialog interessiert ist, wird bei solchen Äußerungen wahrscheinlich schon nervös. Es gab leider in der Vergangenheit schon zu viele gemachte Gegensätze von „jüdisch/alttestamentlich“ und „christlich/neutestamentlich“.
Dabei waren doch die ersten Christen alle Juden. Und auch Juden kannten schon die Schönheit der morgendlichen Andacht. Interessanterweise zitiert auch selbst Bonhoeffer etliche Stellen aus den Psalmen (S. 37); z.B.
„Gott, mein Herz ist voller Zuversicht,
ja, ich bin ruhig geworden im Vertrauen auf dich.
Darum will ich singen und für dich musizieren.
[…]Ich will den neuen Tag mit meinem Lied begrüßen.“.(Bibel / Tanach / Altes Testament, Psalm 57,8-9)
Auch bei Bonhoeffers Gedanken zur morgendlichen Andacht begegnet uns wieder sein Misstrauen gegenüber dem Einzelnen:
„Der Morgen gehört nicht dem Einzelnen, er gehört der Gemeinde des dreieinigen Gottes …“ (S. 36)
Auch finden wir wieder Bonhoeffers Neigung zu Verallgemeinerungen und Verabsolutierungen:
„Zu jeder gemeinsamen Andacht aber gehört das Wort der Schrift, das Lied der Kirche und das Gebet der Gemeinschaft.“ (S. 38)
Das Psalmengebet
Auch Bonhoeffers Psalmen-Verständnis finde ich eigenartig. Er erwähnt ausdrücklich die Rache-Psalmen, schreibt dann allerdings:
„Er [Jesus Christus selbst] ist es, der hier [im Psalm] betet und nun etwa nicht nur hier, sondern im ganzen Psalter.“ (S. 39)
Wie passt da ein „Mit äußerstem Hass hasse ich sie. Sie sind Feinde für mich.“ (Psalm 139,22) zu „Liebt eure Feinde!“ (Matthäus-Evangelium 5,44), „Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas-Evangelium 23,34) oder „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ (Hebräerbrief 13,8)?
Schriftlesung
Auch hier wieder Bonhoeffers Neigung zur Verabsolutierung. Die Gefahr einer Überbetonung der „Heiligen Schrift“ sieht er offensichtlich nicht. Dass er in seinem Schriftverständnis über das hinaus geht, was viele der biblischen Texte über sich selbst sagen, stört ihn offensichtlich auch nicht.
„Sie [die Heilige Schrift] ist Gottes Offenbarungswort für alle Menschen, für alle Zeiten.“ (S. 44)
Auch schreckt er nicht davor zurück, Christen ein schlechtes Gewissen zu machen, die nicht so gern ein Kapitel Altes Testament pro Tag lesen:
„In Wahrheit aber liegt hier eine schwere Schuld verborgen.“ (S. 44)
Fehlt nur noch, dass er Christen, die nicht bereit sind, biblisches Hebräisch, Aramäisch und Koine-Griechisch zu lernen, eine mangelnde Liebe zur Heiligen Schrift unterstellt.
„Was wir unser Leben, unsere Nöte, unsere Schuld nennen, ist ja noch gar nicht die Wirklichkeit, sondern dort in der Schrift ist unser Leben …“ (S. 47)
An dieser Stelle wird ein schwerer grundsätzlicher Fehler Bonhoeffers deutlich erkennbar. Sein Ziel ist, einen Christen mündiger zu machen, aber so, wie er vorgeht, entmündigt er den einzelnen Gläubigen gegenüber einem Heer kirchlicher und akademischer Profis, welche immer wieder neue Bibeln machen und kommentieren und auch gegenüber dem jeweiligen christlichem Gesprächspartner. – Wie kann ein Christ irgendeinem Menschen vertrauen, wenn er sich selbst misstrauen soll?
Immer wieder fordert Bonhoeffer dazu auf, der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen und die Wahrheit „von außen“ zu empfangen. Damit öffnet er jeder Art von Fremdbestimmung und geistlichem Missbrauch Tür und Tor.
Das gemeinsame Lied
Auch beim Thema Lied zeigt sich wieder Bonhoeffers eigentümliche Neigung zur Radikalität. Diesmal betrifft es die Einstimmigkeit im Gegensatz zum mehrstimmigen Gesang:
„Es gibt einige Feinde des einstimmigen Singens, die man in der Gemeinschaft mit aller Rigorosität ausmerzen muss.“ (S. 51)
Erstaunlich finde ich, dass Bonhoeffer nicht darauf besteht, dass nur Bibeltexte gesungen werden. Er erwähnt das Thema noch nicht einmal und verweist explizit auf unterschiedliche Kategorien christlicher Lieder. Offensichtlich geht er in diesem Fall davon aus, dass auch noch nach Fertigstellung der biblischen Texte weitere für einen Christen nützliche Texte (die Liedertexte) geschrieben worden sind.
Das gemeinsame Gebet
Hier wieder Bonhoeffers typisches Misstrauen gegenüber dem einzelnen Gläubigen und der Natur des Menschen. Sein Misstrauen ist offenbar größer als der Glaube an das Wirken des Geistes Gottes in jedem einzelnen Christen.
„Das freie Gebet am Ende der Andacht wird vom Hausvater, jedenfalls aber am besten immer von einem und demselben Bruder gesprochen werden […] um das Gebet vor falscher Beobachtung und vor falscher Subjektivität zu schützen, soll einer längere Zeit hintereinander für alle beten.“ (S. 54)
Diesen Ausführungen über die Morgenandacht folgen ein paar Seiten über die Tischgemeinschaft, die tägliche Arbeit. die Tischgemeinschaft zur Mittagsstunde (wo möglich) und zum Abend, und die letzte Andacht des Tages. Dann folgt der dritte Abschnitt des Buches:
Der einsame Tag
(Dritter Abschnitt des Buches)
Einsamkeit. Gerade in unserer heutigen Zeit von Mega-Cities und Single-Haushalten ein wichtiges Thema.
„Viele suchen die Gemeinschaft aus Furcht vor der Einsamkeit. Weil sie nicht mehr allein sein können, treibt es sie unter die Menschen […] Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft.“ (S. 65)
Eine eigenartige Sichtweise. Das Alleinsein des Menschen erscheint als Normalität und die Furcht vor der Einsamkeit als etwas Unnormales. Dabei ist es doch gerade umgekehrt. Angst vor der Einsamkeit ist gut begründet, denn Einsamkeit macht krank.
Ich frage mich, ob ein jüdischer Geistlicher jemals solche Verse schreiben würde. Jüdisches Leben ist zutiefst auf Gemeinschaft ausgerichtet. – Ich frage mich auch, ob hier nicht unterschwellig noch das katholische Zölibat und asketisches Gedankengut nachwirken.
Das Schweigen
„Das Schweigen wird nicht mehr erkannt in seiner wesenhaften Beziehung auf das Wort, als das schlichte Stillwerden des Einzelnen unter dem Worte Gottes.“ (S. 67)
Ein solches meditierendes Schweigen führt den Gläubigen immer in die Gedankenwelt des antiken Christentums. Bonhoeffer unterschätzt dabei die Bedeutung des Zusammenhangs der Texte mit der antiken Welt, welcher den meisten Lesern und Hörern der biblischen Texte heutzutage nicht vertraut ist.
Um dem Evangelium gerecht zu werden, brauchen wir auch ein meditierendes Nachdenken über Gottes Wirken in unserer Welt heute und die Bedeutung von Tradition und Gottes Gegenwart in unserem Leben heutzutage.
Die Schriftbetrachtung
„Wir lesen in der Meditation den uns gegebenen Text auf die Verheißung hin, daß er uns ganz persönlich für den heutigen Tag und für unsern Christenstand etwas zu sagen habe […]“ (S. 70)
Bonhoeffer ist hier offensichtlich ganz der alten Bibel-Ideologie verfallen. – Wo steht denn die Verheißung, dass Gott auch nach 2000 Jahren noch durch irgendwelche Bibelverse einem Menschen persönlich etwas sagen will? – Dass ein Theologe im 20. Jahrhundert so etwas Undifferenziertes schreibt, ist schon ziemlich erschütternd.
„Zur Selbstbeobachtung aber ist in der Meditation ebenso wenig Zeit wie im christlichen Leben überhaupt.“ (S. 72)
Abgesehen davon, dass diese Einstellung auch so manchen Bibeltexten widerspricht, kommt hier mal wieder Bonhoeffers typisches Misstrauen gegenüber der menschlichen Natur zum Ausdruck.
Wer nicht dazu bereit ist, sein eigenes Leben und sich selbst kritisch zu betrachten, der läuft Gefahr, dass er auch in den biblischen Texten direkt oder indirekt die eigenen Dämonen reden hört und sie mit der Stimme Gottes verwechselt.
Gebet und Fürbitte
Nach der meditierenden, persönlichen Schriftbetrachtung schreibt Bonhoeffer über das persönliche Gebet und die Fürbitte für andere Menschen. Schön finde ich seine Beobachtungen über die Vertiefung von Gemeinschaft und Verbesserung von Beziehungen durch Fürbitte. Auch gefällt mir seine Bemerkung zur Mündigkeit als Kriterium für gute christliche Gemeinschaft:
„Hat die Gemeinschaft dazu gedient, den einzelnen frei, stark und mündig zu machen, oder hat sie ihn unselbständig und abhängig gemacht?“ (S. 75)
Ich befürchte allerdings, dass Bonhoeffers Anweisungen in diesem Buch die Christen eher unmündig machen.
Am Ende des Abschnitts geht Bonhoeffer noch kurz auf das Bild eines Körpers/Organismus für die christliche Gemeinschaft ein; unsere Abhängigkeiten von einander und Wirkungen auf einander. Dieser Punkt wäre es, meiner Meinung nach, wert gewesen, noch weiter ausgeführt zu werden, da die Qualität des gemeinsamen Lebens ja gerade auch von dieser „organischen“ Verbundenheit abhängt.
Der Dienst
(Vierter Abschnitt des Buches)
In diesem Abschnitt finden wir feine Beobachtungen Bonhoeffers über den Umgang mit einander und schöne Gedanken zu verantwortlichen Handeln an einander. Leider aber auch hier Bonhoeffers vereinfachendes und rigoroses Denken:
„Darum ist es für jede christliche Gemeinschaft lebensnotwendig, dass sie von der ersten Stunde an diesen gefährlichen Feind [den Gedanken, wer der Größte ist] ins Auge faßt und ausrottet.“ (S. 77)
Wäre es nicht sinnvoller, anstatt unsere menschliche Natur zu unterdrücken, diese Energien positiv zu nutzen? Matthew Fox‘ Gedanken zur „Spiritualität für Männer“ finde ich da wesentlich gesünder und produktiver.
„Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“
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(Matthäus-Evangelium 10,16)
Beichte und Abendmahl
(Mit diesem fünften Abschnitt endet das Buch.)
„Im täglichen ernsten Umgang mit dem Kreuz Christi vergeht dem Christen der Geist menschlichen Richtens und schwächlicher Nachsicht, er empfängt den Geist des göttlichen Ernstes und der göttlichen Liebe.“ (S. 100)
Schön sind Bonhoeffers feine Beobachtungen und tiefen Gedanken zur Beichte und zum Abendmahl, auch wenn mir die kirchliche Einfärbung dabei nicht so behagt. – In der Kirche ist schon zu viel schief gelaufen.
Nachfolge unterm Kreuz als Lebensstil. – Das Kreuz ist sicherlich eines der stärksten christlichen Symbole, das uns immer wieder neu inspirieren und Orientierung geben kann. Es verändert unser Denken und Bewusstsein. Bei Bonhoeffer kann man dies gut erkennen.
Rezeption
Juden haben eine längere und ältere Geschichte als Christen, und das Thema „Gemeinsames Leben“ und die damit zusammenhängenden Segnungen, Spannungen und Gefahren ist Teil dieser Geschichte. Auch in den biblischen Texten findet dies seinen Niederschlag. Auch alle neutestamentlichen Texte sind durch jüdische Frömmigkeit geprägt.
Ich habe keine Hinweise gefunden, dass das Buch jemals von jüdischen Lesern kommentiert oder rezensiert worden wäre. – Bei einem Buch zu christlicher Gemeinschaft eigentlich auch nicht besonders überraschend. – Kennt jemand von euch vielleicht dennoch entsprechende Texte?
Wo das Buch zutiefst evangelisch geprägt ist, wäre es auch interessant sich anzugucken, wie es bei Christen anderer Traditionen rezipiert worden ist.
Ressourcen zum Buch
Eine weitere Rezension des Buches findet ihr bei windhauch.net.
Wer gerne was hört und Englisch kann, findet auf YouTube eine Audio-Serie zum Buch, die in Texas, USA, bei einer „life group“ für Männer aufgenommen worden ist. (Dies zeigt auch wie aktuell der Text in manchen christlichen Kreisen noch ist.)
Fazit
Das Buch ist notwendigerweise ein Produkt seiner Zeit, und Bonhoeffer würde es vermutlich heute auch nicht mehr so schreiben. Man kann es allerdings auch heute noch, 80 Jahre später, mit Gewinn lesen und wertvolle Anregungen dadurch bekommen. Einem theologisch ungeübten Leser würde ich das Buch allerdings nicht empfehlen. Auch gibt es bessere Bücher zum Thema, die auch besser in unsere Zeit passen, wie z.B. Marion Küstenmachers “Integrales Christentum” (zugegebenermaßen auch deutlich dicker), das dieses Jahr erschienen ist.
Empfehlenswert könnte das Buch vielleicht für einen Menschen sein, der ähnliche Erfahrungen und Denkvoraussetzungen hat, wie Bonhoeffer. Manchmal begleiten uns Texte auf unserer geistlichen Reise für eine Weile, und wir legen sie später beiseite.
Grundsätzlich reicht es allerdings nicht, nur die positiven Aspekte eines Buches zu schätzen. Man muss auch die möglichen negativen Wirkungen betrachten. Ein guter Lehrer hat eine Sensibilität dafür, dass Aussagen missverstanden werden können und didaktische Absichten schief laufen können.
Was Bonhoeffer anbietet ist eine einfache bibel-zentrierte Spiritualität christlicher Gemeinschaft mit starker kirchlich-evangelischer Prägung. Darunter finden sich etliche feine Beobachtungen und tiefe Erkenntnisse. Der Text ist allerdings auch gefährlich. Er spricht die Sehnsucht nach tiefer Verbundenheit im Menschen an und bietet eine mangelhafte Lösung.
Bonhoeffer ist meinungsstark und benutzt immer wieder Verallgemeinerungen und Verabsolutierungen. Hinter allem steht ein negatives Menschenbild. Manche Menschen spricht dies an: Es ist einfach zu verstehen. Aber es ist höchst problematisch, gerade dann wenn man von Gott redet.
Dass Unmündigkeit und geistlicher Missbrauch damit schon in seiner Theologie angelegt ist, scheint Bonhoeffer nicht bewusst gewesen zu sein. Auch die erkenntnistheoretischen Grundlagen der „Wahrheit“, die Christen einander sagen sollen und die laut Bonhoeffer geistliche Gemeinschaft ermöglicht, sind nicht ausreichend reflektiert.
Bonhoeffer war sich offensichtlich des Schattens einer ganzen Gruppe/Kirche und der Mangelhaftigkeit von „geistlicher Gemeinschaft“, Tradition und gruppendynamischen Prozessen nicht bewusst und misstraut vorwiegend dem Einzelnen. Wie, jedoch, soll ein Mensch die Wahrheit erkennen und einem anderen Menschen vertrauen, wenn er sich selbst zutiefst misstraut?