Sehnsucht

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Friedhof im Schnee, von Caspar David Friedrich [Public domain], via Wikimedia Commons

 

 

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –,
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.
(Die Bibel, Tanach / Altes Testament, Psalm 139, Verse 9-12)

 

 

Fernnähe“ – kein neues Wort. Ich kann auch nicht für mich in Anspruch nehmen, diesen Begriff erfunden zu haben. Er drückt die Spannung aus zwischen körperlicher Entfernung und gefühlter Nähe – und umgekehrt.

In der jüdisch-christlichen Überlieferung ist Gott der Inbegriff der Fernnähe. Er ist einerseits als Schöpfer das Gegenüber unserer Welt und somit innerhalb unserer Welt für uns unerreichbar, andererseits ist er uns näher, als uns ein Mensch jemals sein kann.

 

Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

(Tanach / Altes Testament, Kohelet / Prediger 12,7)

 

Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.

(Tanach / Altes Testament, Psalm 139,5)

 

Im 13. Jahrhundert zeigte die französischsprachige theologische Schriftstellerin Margareta Porete (französisch Marguerite Porète oder Porrette) eine besondere Vorliebe für die Gottesbezeichnung „der Fernnahe“ (le Loingprés). Die Inquisition ist verantwortlich für ihr Ende auf dem Scheiterhaufen.

Das Bewusstsein der Gegenwart Gottes hebt uns heraus aus all den Verflechtungen unseres alltäglichen Lebens. Gottes Geist öffnet unseren Horizont ins Unendliche und lässt die Mächte, die uns umgeben, verblassen. Mit Gott stehen wir auf einem festen Fundament.

 

Sie sahen aber den Freimut des Petrus und Johannes und wunderten sich; denn sie merkten, dass sie ungelehrte und einfache Leute waren …

Petrus aber und Johannes antworteten… „Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, dass wir euch mehr gehorchen als Gott. Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.“

(Neues Testament, Apostelgeschichte 4,13-20)

 

»Wer nun auf das hört, was ich gesagt habe, und danach handelt, der ist klug. Man kann ihn mit einem Mann vergleichen, der sein Haus auf felsigen Grund baut. Wenn ein Wolkenbruch niedergeht, das Hochwasser steigt und der Sturm am Haus rüttelt, wird es trotzdem nicht einstürzen, weil es auf Felsengrund gebaut ist …“ Als Jesus dies alles gesagt hatte, waren die Zuhörer von seinen Worten tief beeindruckt. Denn Jesus lehrte sie mit einer Vollmacht, die Gott ihm verliehen hatte – ganz anders als ihre Schriftgelehrten.

(Worte der sogenannten „Bergpredigt“ von Jesus aus Nazareth; Neues Testament, Matthäus-Evangelium 7, 24-29)

 

So wie Gott, so ist auch Christus fern und nah zugleich. Als Christen ist er unser Vorbild. Wir identifizieren uns mit ihm, und auf mystische Weise erfüllt er uns, und ist unser Leben.

 

Jetzt aber gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. Keiner von euch fragt mich, wohin ich gehe,  denn ihr seid voller Trauer über meine Worte. Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist besser für euch, wenn ich gehe. Sonst käme der Helfer nicht, der an meiner Stelle für euch da sein wird. Wenn ich nicht mehr bei euch bin, werde ich ihn zu euch senden.

(Johannes-Evangelium 16,5-7)

 

Darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir! …

(Paulus in seinem Brief an die Galater, 2,20)

 

Die Fernnähe Gottes und Christi sollte uns nicht fremd erscheinen. Wir erfahren dies ja auch in der Beziehung zu Menschen. Wenn unsere Liebsten Tausende von Kilometern entfernt sind, so können sie unserem Herzen doch spürbar nahe sein.

Menschen erfahren allerdings manchmal auch das Gegenteil:  Ein Mensch ist uns fremd, der in unseren Armen ist …

Unsere Beziehungen sind wie ein Tanz, wo sich Nähe und Ferne abwechseln; und manchmal fühlen wir einander näher gerade dann, wenn wir räumlich voneinander getrennt sind.

Die tiefste Trennung zwischen Menschen ist der Tod. Die körperliche Nähe eines geliebten Menschen ist in dieser Welt damit endgültig zu Ende gegangen. In unserem Herzen jedoch leben all die Erfahrungen und Gefühle von Ferne und Nähe zu diesem Menschen weiter …

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Orientierung von oben

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Von MarianSigler (Own work) [CC0, Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons

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Hat „Orientierung“ etwas mit „Orient“ zu tun? – Immerhin, Jesus selbst war  orientalischer  Jude!

Ganz schön krass. Da haben wir doch immer gedacht, Christentum sei etwas Abendländisches … (Deutsche Leitkultur, usw. …)

Moment mal: Luther war doch Deutscher, oder? – Sein echter Name war allerdings nicht Luther, sondern Lüder, Luder, Loder, Ludher, Lotter, Lutter oder Lauther. „Luther“ war sozusagen sein Künstlername.

Und Saint Patrick war auch kein Ire, sondern kam aus Britannien. Auch ziemlich krass. Und verwirrend. Da denkt man, man hat alles so schön in seinen Schubladen sortiert, und dann kommt wieder irgend was und bringt da Unordnung rein.

Orientierung. Gut ausgeschildert. Alles schön geradlinig auf der Autobahn des Lebens. Mit Leitplanken auf beiden Seiten, damit man auch schön schnell fahren kann. – Da soll mir doch bitte keiner meine Vorurteile durcheinanderbringen! Für sowas hab ich keine Zeit. Das Leben ist kurz …

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Und es wird ein Zweig hervorgehen aus dem Stumpf Isais und ein Schößling hervorbrechen aus seinen Wurzeln. Und auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rats und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

(Die Bibel, Tanach / Altes Testament, Jesaja, Kapitel 11, Verse 1-2)

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In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.

(Neues Testament, Johannes-Evangelium 1,4-5)

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Was würde wohl passieren, wenn Jesus unsere Denkgewohnheiten durcheinander brächte, und in unsere muffigen Denkgebäude frischen Wind?

Aus welcher Richtung kommt die Stimme in der Nacht und wo führt sie hin?

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Komm zu mir …

Folge mir nach …

(Matthäus-Evangelium 11,28; 9,9)

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Die jüdisch-christliche Überlieferung ist ein großer Schatz. Wenn wir neugierig wären und im Vertrauen zu Gott verankert, dann würden wir auch veraltete, wertlose Traditionen loslassen und neue Wege finden. Unsere alten heiligen Texte könnten uns wieder inspirieren. Wir könnten unsere Segel hissen, und Gottes ewiger Wind des Lebens würde unser Lebensboot in die richtige Richtung schieben.

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