Rezension: “Freikirchliche Gottesdienste” von Stefan Schweyer

Stefan Schweyer: “Freikirchliche Gottesdienste – Empirische Analysen und theologische Reflexionen”. Erschienen 2020 in der Reihe “Arbeiten zur Praktischen Theologie” (APrTh Band 80) bei der Ev. Verlagsanstalt, Leipzig. 608 Seiten, Hardcover, 58 EUR, ISBN 978-3-374-06710-7.

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Schweyers Buch “Freikirchliche Gottesdienste – Empirische Analysen und theologische Reflexionen” ist in meinen Augen für alle empfehlenswert, die sich empirisch mit Gottesdiensten beschäftigen, sich speziell für freikirchliche Gottesdienste interessieren oder einfach nur Inspirationen zum Thema Gottesdienst suchen. (Alleine die Literaturhinweise bieten eine Fülle von Ansatzpunkten.)

Wem Freikirchen und deren Gottesdienste noch nicht vertraut sind, der bekommt durch das Buch einen guten Einblick durch einen Kenner der Szene; und denjenigen, die freikirchliche Gottesdienste schon kennen, begegnet eine detailreiche und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand, sowohl in der empirischen Arbeit, als auch in der theologischen Reflektion. 

Einzelne Aspekte freikirchlicher Gottesdienste, wie Musik, Gebete, Bibelgebrauch, die Rolle der Predigt, das Abendmahl und die Kollekte, werden bei der Studie berücksichtigt und analysiert, und wer sich nicht durch den Umfang und das wissenschaftliche Niveau dieser Habilitationsschrift abschrecken lässt, kann beim Lesen eine Menge lernen und viele Anregungen finden.

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ZUM AUTOR

Warum interessieren sich Menschen für freikirchliche Gottesdienste? Bei Stefan Schweyer ist dieses Interesse leicht nachzuvollziehen. In seinem Buch beschreibt er unter Punkt 3.4, “Reflektierte Subjektivität”, seine eigene persönliche Verwicklung mit dem Thema.

Schweyer wurde 1970 im Kanton Zürich geboren und war seit seiner Kindheit Teil der freikirchlichen Szene. Seine Eltern waren als Gemeindegründer in Freien Evangelischen Gemeinden tätig. Im Gymnasium des Benediktinerklosters Einsiedeln begegnete er allerdings auch den hochliturgischen Gottesdiensten in der prunkvollen Klosterkirche. Er studierte Theologie und arbeitete als Pastor in einer Freien Evangelischen Gemeinde. Seit 2008 ist er Dozent und seit 2020 Ordentlicher Professor für Praktische Theologie an der STH Basel. Das vorliegende Buch ist seine leicht überarbeitete Habilitationsschrift, welche 2019 von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) angenommen wurde.

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ZUM BUCH

Im deutschsprachigen Raum ist die Gottesdienstkultur seit Jahrhunderten durch die traditionellen Gottesdienste der Großkirchen geprägt worden. Schweyers Interesse gilt in seiner Habilitationsschrift Gottesdiensten, welche alternativ zu diesen traditionell-liturgisch gestalteten Gottesdiensten gefeiert werden. Er erläutert:

“Während solche Formate in grosskirchlichen Kontexten meist einen die ‘klassischen’ Gottesdienste ergänzenden Charakter haben, stellen sie in freikirchlichen Kontexten den sonntäglichen und regelmäßigen ‘Normalfall’ dar.” (S.100)

Um solche normalen freikirchliche Sonntagsgottesdienste geht es also in dem vorliegenden Buch. Da das Thema noch nicht ausreichend von Liturgiewissenschaftlern beanrbeitet worden ist, will Schweyer mit seiner Arbeit eine Lücke schließen; und da es in Freikirchen keine zugrunde liegendenden Gottesdienstbücher oder Agenden gibt, drängt sich der empirische Zugang zu diesem Forschungsgegenstand geradezu auf. Das Ziel der Studie war es, die impliziten Logiken freikirchlicher Gottesdienste besser zu verstehen:

“Meine Aufmerksamkeit gilt den theologischen Motiven, die in der Gottesdienstgestaltung und im Gottesdienstverständnis der verantwortlichen Personen zum Ausdruck kommen.” (Punkt 3.1, “Präzisierung der Fragestellung”, S.100)

Die kritische Reflexion des eigenen Standpunkts ist dabei ein wichtiges Element empirischer Sozialforschung. Schweyer ist sich dessen bewusst und dokumentiert dies unter Punkt 3.4, “Reflektierte Subjektivität”. Er schreibt dort bzgl. seiner Nähe zum Forschungsgegenstand: 

“Die Nachteile, dass blinde Flecken übersehen werden und die kritische Distanz fehlen kann, sind nicht zu unterschätzen …” (S.112)

Schweyer knüpft in seiner Studie an einer Aufteilung der freikirchlichen Szene in drei Submilieus an: “klassisch”, “konservativ” und “pfingstlich-charismatisch”. Er sieht innerhalb des pfingstlich-charismatischen Milieus allerdings nochmals wesentliche Unterschiede in Bezug auf die Gestaltung von Gottesdiensten und ergänzt deshalb die drei Submilieus durch ein viertes “neocharismatisches” Submilieu, zu dem er beispielsweise die International Christian Fellowship (ICF) zählt .

Schweyer hatte sich darum bemüht, auch Gottesdienste der sogenannten “geschlossenen Brüder” in seine Studie miteinzubeziehen. Aufgrund eines mangelnden Interesses an einer Zusammenarbeit seitens der angefragten Gemeinden konnten solche Gottesdienste dann allerdings leider nicht in die Studie mit aufgenommen werden (S.129). Besucht wurden schließlich jeweils ein Gottesdienst von insgesamt 16 Gemeinden aus dem konservativen (3 Gemeinden), dem klassischen (4 Gemeinden), dem pfingstlich-charismatischen (6 Gemeinden) und dem neocharismatischen Milieu (3 Gemeinden).

Schweyer weist darauf hin, dass es in der qualitativen Sozialforschung umstritten ist, “ob die vorgängige Formulierung von Hypothesen hilfreich oder hinderlich ist” (S. 105). Er entscheidet sich für “hypothesengeleitete Forschung”, welche einen Mittelweg zwischen hypothesengenerierender und hpyothesenüberprüfender Forschung darstellt. Er nähert sich dem Forschungsgegenstand auf vier Wegen: Teilnehmende Beobachtung, Videoaufzeichnung, Gruppeninterview und schriftliche Quellen. Den Kapiteln zur empirischen Arbeit gehen noch ein Kapitel mit einer Einführung in die Thematik und ein Kapitel mit einer Darstellung des aktuellen Forschungsstandes voraus.

Alle Sozialforscher kennen das Problem, dass die begrenzenden Rahmenbedingungen einer Studie leider manches verhindern, was aus wissenschaftlichem Interesse und zur Steigerung der wissenschaftlichen Qualität wünschenswert wäre. Diese Erfahrung musste auch Schweyer machen. Er weist z.B. explizit darauf hin, dass eine kommunikative Validierung mit den Interviewpartnern nicht erfolgt ist, weil der Forschungsprozess “nur einen einmaligen Aufenthalt an einem Gottesdienstort und nur ein einmaliges Treffen der Interviewgruppe vorsah” (S. 105).

Im Anschluss an die Analysen zu freikirchlicher Gottesdienstpraxis und Gottesdiensttheologie reflektiert er die Ergebnisse untergliedert in 6 Themenbereiche:

Alltag & Gottesdienst
Allgemeines Priestertum & Gottesdienst
Mission & Gottesdienst
Gottesdienst zwischen Form und Freiheit
Gottesdienst zwischen Individualität und Universalität
Liturgische Spannungsfelder

Abschließend formuliert er dann im letzten Kapitel noch “Ein- und Aussichten” in Bezug auf die freikirchliche Gottesdienstlandschaft und die liturgiewissenschaftliche Forschung. 

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KRITISCHE BEWERTUNG

Das Buch ist keine gefällige Lektüre. Es ist ein theologisches Fachbuch. Es folgt nicht dem geschmeidigen Verlauf einer Erzählung, sondern strenger wissenschaftlicher Logik. Schweyers sorgfältiges Arbeiten und seine präzise Sprache erleichtern allerdings das Lesen. Schweizer Kultur ist wahrnehmbar.

Ein Buch zu freikirchlichen Gottesdiensten veröffentlicht von einer Evangelischen Verlagsanstalt. Nicht selbstverständlich. Titel und Verlag lassen vermuten, dass es bei dem Buch um freikirchliche Gottesdienste in Deutschland geht. Diese kommen in dem Buch allerdings kaum vor. Schon auf der Rückseite des Buches wird erklärt, dass die Studie auf empirischen Untersuchungen in der deutschsprachigen Schweiz basiert.

Sicherlich werden viele Beobachtungen und Aussagen in ähnlicher Weise auch auf freikirchliche Gottesdienste in Deutschland zutreffen. In welchem Umfang es dabei auch Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland gibt, wird in der Studie selbst allerdings nicht empirisch erfasst. Wem die freikirchliche Szene in Deutschland nicht bereits vertraut ist, dem wird es schwer fallen zu beurteilen, inwieweit sich die Ergebnisse auf Deutschland übertragen lassen. Das beschriebene Zusammenspiel der für freikirchliche Gottesdienste wichtigen Elemente (Glaubensüberzeugungen, Allgemeines Priestertum, Mission, Alltagsbezug, usw.) dürfte allerdings nicht nur für Schweizer und auch nicht nur für freikirchliche Christ*innen interessant sein.

Bei dem Buch handelt es sich um eine interdisziplinäre Arbeit. Schweyer wendet Methoden der qualitativen Sozialforschung an, um ausgewählte Gottesdienste in der deutschsprachigen Schweiz zu untersuchen. Alle offenen Fragen der Sozialwissenschaft, wie sie z.B. im schon Jahrzehnte andauernden “Methodenstreit” (quantitativ vs. qualitativ) zum Ausdruck kommen, betreffen somit offensichtlich auch den empirischen Teil dieses Buches. Bei einem Forschungsgegenstand mit einer spirituell-religiösen Dimension sicherlich ein ernstzunehmender Aspekt.

Die Darstellung der Studie im Buch beschreibt ein fleißiges Vorgehen und offenbart Kenntnis sozialwissenschaftlicher Vorgehensweise. Ich konnte anhand von Schweyers Lebenslauf allerdings nicht erkennen, ob Schweyer schon vor dieser Habilitation einmal sozialwissenschaftlich gearbeitet hat. Auch nach Lesen des Buches blieben bei mir Zweifel bestehen, inwieweit ausreichende sozialwissenschaftliche Kompetenz für diese Studie vorhanden gewesen ist. Sicherlich würde es die Qualität interdisziplinärer Studien verbessern, wenn man entsprechend dem Forschungsgegenstand und dem Forschungsansatz auch in einem interdisziplinären Team arbeiten würde. 

Schweyer besitzt ein großes persönliches Interesse und eine biografische Nähe zu seinem Forschungsgegenstand. Dies hat offensichtliche Vorteile, bringt aber auch den Nachteil mit sich, dass die sozialwissenschaftlich geforderte “Verfremdungshaltung” in Bezug auf das sogenannte “Fremdverstehen” der involvierten Personen besonders schwer fallen dürfte. Auch in Bezug auf diesen Aspekt wäre Teamarbeit, gemeinsam mit Wissenschaftlern, die eine größere persönliche Distanz zum Forschungsgegenstand haben, sicherlich sinnvoll gewesen.

Gewünscht hätte ich mir auch, dass die theoretischen Voraussetzungen von Schweyers Überlegungen deutlicher geworden wären. Da er selbst evangelischer Theologe ist und das Buch in einem evangelischen Verlag erschienen ist, kann man davon ausgehen, dass “evangelische Identität” (was auch immer das genau sein mag) eine Rolle gespielt hat. (“Evangelisch” ist in den letzten Jahrhunderten zu einem ziemlich “breiten” Attribut geworden.) Andererseits ist allerdings auch Schweyers Liebe zur Ökumene in seinem Buch deutlich erkennbar. Aber mit welchen Überzeugungen und Denkvoraussetzungen geht er in die ökumenische Begegnung?

Schweyer ist Professor an einer Hochschule, die damit wirbt, “bibelorientiert” zu sein. Aber orientieren sich nicht alle Christ*innen irgendwie an der Bibel? – All die Fragen, welche mit der Bedeutung der biblischen Texte und unseren Umgang mit ihnen zusammenhängen, sind leider selbst auf der höchsten akademischen Ebene längst noch nicht geklärt, und es erscheint mir fraglich, ob dies jemals der Fall sein wird.

Die theoretischen Denkvoraussetzungen des Autors bleiben in meiner Wahrnehmung schwammig. (Wem die christliche Szene vertraut ist, dem ist allerdings auch dieses Problem vertraut.) Und dort, wo Schweyer bezug zur Bibel nimmt, empfinde ich seine Argumentation nicht immer als stimmig. So schreibt er z.B.:

“Schon in der Eröffnungssequenz kann die vertikale Dimension markiert werden, indem der Gottesdienst mit Bibelwort und Gebet startet.” (S. 548)

Aber warum sollte ein antikes Menschenwort aus der Bibel mehr “Vertikalität” markieren als ein aktuelles prophetisches “Menschenwort” eines Gemeindemitglieds? “Lehrt” uns nicht gerade die Bibel, z.B. im Ersten Korintherbrief, die Bedeutung solcher aktuellen prophetischen Worte?

Hätte man z.B. die Integrale Theorie Ken Wilbers genutzt, um die Aspekte von Gottesdienst differenzierter zu betrachten und Elemente entsprechend einzuordnen, so wären die Bezüge zwischen einzelnen Elementen und Argumentationslinien klarer gewesen und auch der theoretische Ansatz wäre eindeutig benannt. (Material zur Integralen Theorie und Integralem Christentum ist bereits seit vielen Jahren vorhanden.)

Trotz der angesprochenen Schwächen stellt das Buch, meiner Meinung nach, einen wertvollen Beitrag zum Verständnis und zur Weiterentwicklung von Gottesdienstkultur dar. Die Bedeutung der Studie dürfte über den deutschen Sprachraum hinausgehen. Persönlich schätze ich am Buch besonders Schweyers Interesse am ökumenischen Austausch und der Verbesserung gottesdienstlicher Praxis. Bleibt zu wünschen, dass dieses Buch dazu beiträgt.

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ANMERKUNGEN

Auf der Homepage des Verlages stehen Beilagen zur Studie zum Download zur Verfügung:

Stefan Schweyer: Freikirchliche Gottesdienste  ->  Beilagen

Die Publikation von Schweyers Buch wurde unterstützt vom Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz (VFK – freikirchen.ch) und von der Arbeitsgemeinschaft für biblisch erneuerte Theologie (afbet.ch).

Weitere Rezensionen zum Buch findet man hier:

Stefan Schweyer: Freikirchliche Gottesdienste (Rezension von Dejan Aždajić, Arbeitskreis für evangelikale Theologie)

Freikirchliche Gottesdienste (Rezension von Ron Kubsch, Evangelium21)

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Allergisch auf Frommes

 

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Allergietest auf der Haut, by Wolfgang Ihloff (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 4.0-3.0-2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0-3.0-2.5-2.0-1.0)%5D, via Wikimedia Commons
 

 

Es ist mal wieder so weit. Die meiste Zeit des Jahres kann ich mit meiner Pollenallergie ganz gut leben; aber im Moment ist sie wirklich lästig. – Haaatschi!!! – Probleme lassen sich halt nur bis zu einem gewissen Grad ausblenden. Schon blöd, dass mein Körper sich von etwas bedroht fühlt, was eigentlich gar nicht gefährlich ist.

Manche Menschen reagieren allergisch auf Christliches oder Religiöses. Ein Gefühl der Abneigung und des Unbehagens, das sie vielleicht nicht einmal selbst ganz verstehen. Es gibt sogar welche, die sich aufregen und aggressiv werden …

Ich bin in einer frommen Familie und einer kleinen christlichen Freikirche aufgewachsen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich als Heranwachsender manchmal dachte: „Ich mag das ganze Fromme eigentlich nicht so wirklich …“ – Worauf sich dann natürlich ein entsprechendes schlechtes Gewissen einstellte. Frommes muss man doch mögen, oder?

Gefühle hat man einfach. Auch wenn sie stören, kann man sie nicht sofort abschalten. Sinnvoller als abschalten wäre sowieso sich zu fragen, wo die Gefühle herkommen und welche Bedeutung sie haben.

Wenn Menschen allergisch auf „Frommes“ reagieren, müssen sie irgendwann & irgendwie einmal Frommes als etwas Negatives kennengelernt haben. Dies kann einfach ein Vorurteil oder eine Geschmacksfrage sein. Es ist allerdings leider auch gut möglich, dass sich etwas Schlechtes als fromm präsentiert hat, obwohl es echter Frömmigkeit gar nicht entsprach. Wer echten, gesunden christlichen Glauben nicht kennt, hat kaum eine Chance eine „Fälschung“ zu erkennen.

Schon der Begriff „fromm“ selbst ist problematisch. Auch manche Christen empfinden ihn als negativ, weil man leicht eine oberflächliche Form von Religiosität damit verbindet. Ich selbst mag das alte Wort „fromm“, weil ich dabei an Charakter und Lebensstil denke. Eine mögliche Alternative „gläubig“, oder vielleicht sogar „christlich gläubig“, wird leider zu oft sehr theoretisch verstanden. Beim christlichen Glauben geht es aber unbedingt darum, wie man (auch im Alltag) lebt und was für ein Mensch man wirklich ist.

Ich habe lange gebraucht, unterscheiden zu lernen, zwischen dem, was als „christlich“ präsentiert wird, und dem, was wirklich der Überlieferung des Mannes aus Nazareth entspricht; und ich bin damit auch noch lange nicht fertig.

Unser „christliches“ Abendland wurde so nachhaltig durch „christliches“ Gedankengut und kirchliche Praxis geprägt, dass man genau hinschauen muss, um erkennen zu können, wieviel davon wirklich auf den jüdischen Messias Jesus zurückgeht und was nur als „christlich“ etikettiert wurde. Was wir brauchen, ist nichts Geringeres als eine neue Reformation. Aber diesmal richtig.

 

Ich hasse und verachte eure religiösen Feste und kann eure feierlichen Zusammenkünfte nicht riechen. Ich will eure Brand- und Speiseopfer nicht haben; die Friedensopfer eurer Mastkälber will ich nicht sehen! Hört auf mit dem Lärm eures Lobpreises! Eure Anbetungsmusik werde ich mir nicht anhören. Stattdessen will ich Recht fließen sehen wie Wasser und Gerechtigkeit wie einen Fluss, der niemals austrocknet.

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(Die Bibel, Tanach / Altes Testament, das Buch des Propheten Amos, 5. Kapitel, Verse 21-24)

 

Religionskritik an der eigenen Religion ist ein Wesensmerkmal der jüdisch-christlichen Überlieferung. Und es ist oft gerade diese selbstkritische Distanz zur eigenen Überzeugung und Praxis, die bei denen fehlt, die den christlichen Glauben für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.

Es gibt zu viel Falsches und Missverständliches, was mit dem Brustton der eigenen Überzeugung als die absolute „christliche Wahrheit“ präsentiert wird. Zu viel „christlichen“ Murx, der in einer Aura von Heiligkeit und mit dem Anspruch auf Vollkommenheit einherschreitet. Der eigene Glaube wird mit „doch so einleuchtenden und logischen“ Argumenten verteidigt, welche nur die überzeugen können, die sich sowieso überzeugen lassen wollen, und welche statt brillianter Intelligenz eher ein zu niedriges intellektuelles Niveau offenbaren.

So manche „christliche“ Institution ist eine geistliche und geistige Ruine. Kritische Fragen sind nicht erwünscht. Alle sind schon gleichgeschaltet und auf Linie gebracht. Statt Echtheit und Natürlichkeit trifft man auf Heuchelei und Verstellung. Es ist eng, muffig und stickig, bedrückend und beklemmend. Kein Ort, wo kranke Seelen aufatmen können.

Das alte Deutsch einer Lutherübersetzung oder von schönen alten Kirchenliedern ist nicht christlich, sondern einfach alt. Viele Kirchen mögen Christen über lange Zeit ein wertvoller Versammlungsort gewesen sein – aber verstaubt sind sie trotzdem. Talare, Weihrauch, Altäre, Kirchenglocken, etc. stammen aus einer vergangenen Zeit. Ob sie in der Zukunft geeignet sein werden, etwas von Jesus deutlich werden zu lassen, ist die Frage. (Man kann sich auch fragen, ob sie das überhaupt jemals wirklich getan haben.)

Blödheit wird nicht dadurch besser, dass man es für Gott oder Jesus tut. Auch wirkt so manches Gut-gemeinte verkrampft und angestrengt, ängstlich und besorgt, und aus manchem Frommen leuchtet nur ein schwacher Schein des Wesen Jesu hervor. Und Gott weiß, wie oft das bei mir selbst der Fall war und ist. – Herr, erbarme dich!

 

„Bessere Lieder müßten sie mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!“

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(aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“)

 

Das Leben wäre oft einfacher, wenn wir in einer Schwarz-Weiß-Welt leben würden: Gut oder schlecht? Richtig oder falsch? Ja oder Nein? – Aber unsere Welt ist bunt mit unendlich vielen Schattierungen. Oft müssen wir sagen: Sowohl, als auch. Nicht ganz falsch, und nicht ganz richtig. Etwas hat Vor- und Nachteile.

Auch das real-existierende Christentum ist seinem Selbstverständnis nach eigentlich mangelhaft und relativ. Nur Gott ist absolut und allmächtig. Wir hingegen sind begrenzt, und unser Tun und Verstehen bleibt immer bruchstückhaft und unvollkommen. Nichts Konkretes in dieser Welt ist so heilig, dass es nicht auch Schattenseiten hätte. Gerade unser Mangel begründet unser Bedürfnis nach Gott, den wir selbstverständlich auch weiterhin brauchen, nachdem wir Christ geworden sind.

Von Christus heißt es, dass er sich erniedrigte und Mensch wurde, und dass er sich nicht geschämt hat, uns Schwester und Brüder zu nennen (Bibel, Neues Testament, Paulus‘ Brief an die Philipper 2,5-8; Hebräerbrief 2,11). Sollten nicht gerade Christen, die als begnadigte Sünder leben, kein Problem damit haben, Mängel und Fehler zuzugeben und anderen Sündern einladend zu begegnen? Anstelle als Glaubenshelden und Superheilige umherzuwandeln, dürfen wir andere unsere Schwächen und Fehler sehen lassen. Schwachheit ist eine Strategie des Wirken Gottes in dieser Welt. Jesus bejahte menschliche Schwachheit, um für uns zu leben und zu sterben.

Ist Bescheidenheit nicht auch eine christliche Tugend? Wäre es nicht dem Weg Jesu angemessener, die Kompliziertheit vieler Entscheidungen anzuerkennen und auf die eigene Begrenztheit hinzuweisen, als mit irgendwelchen Auslegungstricks Antworten auch auf die schwierigsten Fragen herbeizuzaubern? An der Seite von Menschen mit zu leiden und ungelöste Probleme auszuhalten, anstatt durch „theologische“ Schnellschüsse die Intaktheit des eigenen, mangelhaften Weltbildes zu beschützen?

Wenn Menschen auf „Frommes“ allergisch reagieren, so ist dies leider allzu oft eine richtige und gesunde Reaktion, weil das, was sich fromm gibt, nicht wirklich der Frömmigkeit von Jesus entspricht.

 

Liebe ist geduldig, Liebe ist freundlich. Sie kennt keinen Neid, sie spielt sich nicht auf, sie ist nicht eingebildet. Sie verhält sich nicht taktlos, sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sie verliert nicht die Beherrschung, sie trägt keinem etwas nach. Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht, aber wo die Wahrheit siegt, freut sie sich mit. Alles erträgt sie, in jeder Lage glaubt sie, immer hofft sie, allem hält sie stand. Die Liebe vergeht niemals …

… was wir erkennen, ist immer nur ein Teil des Ganzen …

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(Die Bibel, Neues Testament, der erste Brief des Apostel Paulus
an die Gemeinde in Korinth, 13,4-9)

 

… Richtet eure Gedanken ganz auf die Dinge, die wahr und achtenswert, gerecht, rein und unanstößig sind und allgemeine Zustimmung verdienen; beschäftigt euch mit dem, was vorbildlich ist und zu Recht gelobt wird.

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(Paulus‘ Brief an die Philipper, 4,8)

 

[Dies ist die Überarbeitung eines älteren Artikels. Den älteren Artikel mit Kommentar findet ihr hier.]