soft skills

 

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Selbstporträt von Élisabeth Vigée-Lebrun mit ihrer Tochter [Public domain], via Wikimedia Commons

 

… Die Schrift ist Gottes Atem. Sie soll uns unterweisen; sie hilft uns, unsere Schuld einzusehen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen und so zu leben, wie es Gott gefällt. So werden wir reife Christen und als Diener Gottes fähig, in jeder Beziehung Gutes zu tun.
 .

(Paulus in der Bibel, Neues Testament, der zweite Brief an Timotheus, 3. Kapitel, Verse 16-17)

 

 

Dies sind die klassischen Verse zur Inspiration der Bibel. Wenn wir die Verse im Zusammenhang lesen, wird allerdings klar, dass die Inspiration der Bibel hier gar nicht das Thema ist. Ganz abgesehen davon, dass es die Bibel natürlich noch gar nicht gab.

Paulus‘ Verweis auf die Texte, die Timotheus seit seiner Kindheit kennt, legt nahe, dass hier an die heiligen Schriften der Juden (unser Altes Testament) gedacht ist. Auf jeden Fall kann man weder von diesen Versen noch von irgendwelchen anderen Versen in der Bibel ableiten, dass mit diesen Worten all die 66 Bücher gemeint sind, die viele heute als Bibel kennen. Wie schon so oft, hat hier jemand einen Bibelvers gesucht, um seine eigene Meinung zu begründen, und gedacht, diese Verse passen doch ganz gut (was offensichtlich gar nicht der Fall ist).

Der Missbrauch dieser Bibelstelle zur Begründung von Biblizismus lenkt auch von der eigentlichen Aussage ab. Um die Verse von Paulus richtig zu verstehen, dürfen wir nicht unsere heutigen Fragestellungen an den Text herantragen, sondern sollten versuchen, uns einen Eindruck davon zu verschaffen, was Paulus seinem jüngeren Mitarbeiter Timotheus hier vermitteln will.

Paulus schreibt Timotheus, dass er angesichts wachsendem Unglaubens, zunehmender Unmoral und verbreiteter Irrlehre entschlossen für die gesunde Lehre eintreten soll. Dabei betont er die wertvolle Bedeutung der heiligen Schriften für diese Aufgabe. Interessant ist dabei das Wort, das dafür verantwortlich ist, dass diese Verse in der Bibel-Inspiration-Diskussion überhaupt benutzt werden: „theopneustos“. Das Geschriebene am Anfang von Vers 16 wird im griechischen Urtext mit dem Ausdruck „theopneustos“ näher beschrieben: theos = Gott, pneo = ausatmen.

Eine geniale Wortwahl. In diesem einen Wort steckt Schöpfung und Heilsgeschichte. Ein Leser, dem die jüdischen heiligen Texte vertraut sind (Timotheus), hat da eine ganze Menge von Assoziationen:  Der Geist Gottes, der am Anfang der Schöpfung über dem Wasser brühtet; Gottes Atem, der den Acker zu einem lebendigen Menschen belebt; und natürlich auch Gottes Geist, der die Propheten getrieben hat, in Seinem Namen zu reden.

Die populäre NIV übersetzt ins Englische „God-breathed“. Das ist die, meiner Meinung nach, beste Übersetzung, die ich bis jetzt gefunden habe. Eine entsprechend gute Übersetzung ins Deutsche habe ich bis jetzt leider nicht gefunden. Das Wort „eingegeben“, das in deutschen Übersetzungen steht, weckt Assoziationen, die dem Urtext nicht entsprechen. (Deshalb habe ich in den obigen Versen versucht, eine eigene Übersetzung zu machen.)

Wortspiele, die den Deutungsspielraum der Begriffe „ruach“ (das hebräische Wort im Tanach, unserem Alten Testament) und „pneuma“ (das griechische Wort im Neuen Testament) ausnutzen, finden sich auch in anderen neutestamentlichen Texten; z.B. in diesen Versen im Johannes-Evangelium:

 

Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist (pneuma) geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes hineingehen. Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist (pneuma) geboren ist, ist Geist (pneuma). Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind (pneuma!) weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist jeder, der aus dem Geist (pneuma) geboren ist.

(Neues Testament, Johannes-Evangelium 3,5-8)

 

Die Verse im Timotheusbrief berühren eine für Christen sehr wichtige Frage: Wie gehen wir mit unseren heiligen Texten um? Oder noch genauer formuliert: Wie benutzen wir sie?

Das Wort „benutzen“ sollte uns schon vorsichtig werden lassen. Die Grenze zur Instrumentalisierung von Texten, denen man göttliche Autorität zuspricht, ist offensichtlich nicht leicht zu ziehen. Durch Worte wie „Belehrung“, „Widerlegung“ und „Korrektur“, die in Übersetzungen zu lesen sind, könnte sich so manch einer zu Wortgefechten mit Bibelversen eingeladen fühlen. Oberlehrerhaftes Verhalten und Rechthaberei sind nicht mehr weit entfernt. Viele Menschen, die entsprechende Erfahrungen in christlichen Kreisen gemacht haben, wissen, was ich meine; und auch die Kirchengeschichte ist leider angefüllt mit Beispielen solchen Verhaltens.

In Versen aus Paulus‘ Brief an die Gemeinde Korinth klingt an, dass Texte im neuen Bund Gottes mit seinen Menschen eine untergeordnete Rolle spielen:

 

„Wir bilden uns nicht ein, aus eigener Kraft irgendetwas tun zu können; nein, Gott hat uns Kraft gegeben. Nur durch ihn können wir die rettende Botschaft verkünden, den neuen Bund, den Gott mit uns Menschen geschlossen hat. Wir verkünden nicht länger die Herrschaft des geschriebenen Gesetzes, sondern das neue Leben durch Gottes Geist. Denn der Buchstabe tötet, Gottes Geist aber schenkt Leben.

(2. Korinther 3,5-6)

 

Gott lässt sich weder in einem Buch einsperren, noch hat er sein Wirken darauf beschränkt, dass alte, antike Texte gelesen werden. Das Leben selbst besteht nur fort, weil Gott es ständig belebt, und wie beim Wind kann man weder sehen, wo Gottes Wirken herkommt, noch wohin es geht. Im neuen Bund Gottes mit seinen Menschen kann der Gläubige jetzt geistliches Leben unmittelbar durch Jesus empfangen, und nicht mehr vermittelt durch Priester oder heilige Texte.

Wie Gottes Atem den Acker zum Leben erweckt, so erweckt er auch tote Buchstaben dazu für den geistlichen Menschen nützlich zu sein, um richtig leben zu lernen. Das Ziel ist nicht Wissen, sondern ein Lernprozess, um befähigt zu werden, Gutes zu tun. „soft skills“ anstelle von schlagkräftigen Argumenten. Der Gläubige wird immer mehr zum Beteiligten bei Gottes Plan, sein Schalom, seine ewige Friedensherrschaft in dieser Welt aufzurichten.