Spiritualität Berlin

 

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Ausdehnung des Stadtraums vom Zentrum in Richtung Norden, Foto von Avda / http://www.avda-foto.de – CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

 

1.  Nicht nur Berlin

Ich schreibe diesen Artikel, weil ich in Berlin in Sachen Spiritualität etwas bewegen will. Was ich hier schreibe, lässt sich aber bestimmt auch irgendwie auf deine Region übertragen.

 

„Das, was du heute denkst, wirst du morgen sein.“

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(Buddha)

 

2.  Angesagt – Spiritualität ist  DAS  Thema

Die Frage, die man letztes Jahr Tobias Faix gestellt hat, wird man sicherlich noch eine ganze Weile vielen Leuten stellen können?

„Warum ist Spiritualität so in und Kirche so out, Herr Faix?

Einerseits gibt es in der Welt eine wachsende Zahl von Menschen, die sich von etablierten religiösen Institutionen verabschiedet haben, andererseits ist das Thema Spiritualität so angesagt wie nie; und der Bedarf an kompetenten Gesprächspartnern und geeigneten Angeboten ist riesig.

 

„Der Christ von heute muss ein Mystiker sein.“

(Karl Rahner – vgl. H. Vorgrimler, „Gotteserfahrung im Alltag. Der Beitrag Karl Rahners zu Spiritualität und Mystik“, Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen, hrsg. von K. Lehmann (Zürich, 1984), 62–78, mit Zitaten und Literatur)

 

„… dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei“

(Rahner in „Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge“, in: ders., Schriften zur Theologie, XIV (Zürich, 1980), 161.

 

3.  Sichten / Überblick verschaffen

In Berlin sind die spirituellen Angebote so zahlreich, dass es schon ein Vollzeit-Job ist, sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Manche Angebote sind selbst übers Internet nicht zu finden, und manche sind kostenpflichtig.

 

 

Eine wichtige Aufgabe wäre schon einmal, Medien zu schaffen, über die man sich einfach und gut informieren kann, und finden kann, was für einen passt.

 

 Ihr könnt doch alle der Reihe nach in Gottes Auftrag reden, damit alle lernen und alle ermutigt werden.“

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(Apostel Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth; Bibel, Neues Testament, 14. Kapitel, Vers 31)

 

4.  Gesellschaftliche Kraft

Spiritualität scheint eine wichtige Kompetenz zu sein, um in unserer komplexen Welt das Leben zu bewältigen; und in der Zukunft wird die Bedeutung von Spiritualität wohl eher noch weiter zunehmen.

Darüber hinaus können spirituelle Menschen aber auch gesellschaftlich und global-politisch etwas bewegen. Dieses Engagement kann man auch organisieren und Synergie-Effekte nutzen. Aber auch hier ist es wieder schwierig, passende Projekte zu finden, und manche sinnvollen Strukturen scheinen auch noch gar nicht zu existieren.

 

„Die Kirche der Zukunft muss vor allem eine Kirche lebendiger Spiritualität sein.“

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(Karl Rahner)

 

5.  Öffentlicher Diskurs

Spiritualität ist auch eine Aufgabe für alle Bildungseinrichtungen, von den Schulen bis hin zur Erwachsenenbildung. Sprache spielt dabei eine große Rolle, sowohl was soziale Kompetenz, Toleranz und Kommunikationsfähigkeit betrifft, als auch bezüglich der Begriffe und sprachlichen Elemente selbst.

Ich erlebe es fast täglich, dass selbst Menschen, welche  dieselbe  religiöse Tradition haben, kaum noch in der Lage sind, sich über die spirituellen Fragen, die ihnen wichtig sind, zu verständigen. Wie soll dann interreligiöser Dialog funktionieren, wenn wir nicht an unserer Kommunikationsfähigkeit arbeiten?

 

„Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen.“

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(Pythagoras von Samos)

 

„Public Theology“ ist mittlerweile ein Begriff, aber entsprechende Angebote sind noch zu wenig, und scheinen oft eher Veranstaltungen von und für Insider zu sein. Es ist höchste Zeit zu beweisen, dass Theologie auch relevant für den normalen Bürger sein kann. Wenn sie das nicht schafft, braucht man sie dann überhaupt noch?

Worthaus ist sicherlich ein Vorzeige-Projekt in dieser Hinsicht. Ich kenne leider aber auch kein zweites vergleichbares Projekt im deutschsprachigen Raum.

 

„Liebe und Spiritualität erschließen schließlich jene Resonanzen, die über unser Selbst hinausweisen.“

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(Matthias Horx)

 

6.  Neue Projekte

Spiritualität will nicht nur gefühlt und gedacht, sondern auch er-lebt und ge-lebt werden. Dafür braucht es spirituelle Communities mit Menschen aus Fleisch und Blut.

Spiritualität und Wir-Gefühl brauchen Zeit. Einmal im Monat ein spirituelles Event ist viel zu wenig. Wir brauchen menschliche Beziehungen mit Zeit, wo Vertrauen wachsen kann, und Orte und Treffen, die solche Gemeinschaft initiieren und inspirieren.

 

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Auroville, Foto von sillybugger, via Wikimedia Commons – CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)

 

Vielleicht erreiche ich über diesen Artikel ja ein paar Leute, die sich über dieselben Fragen Gedanken machen, und wir können zusammen etwas bewegen …

 

Geist-licher Miss-brauch: Evangelium 21

 

Evangelium 21

 

Fürs 21. Jahrhundert? Echt jetzt?

Will man wirklich so Menschen im 21. Jahrhundert erreichen? Vielleicht sogar die nächste Generation?

Ich hab eher den Eindruck, dass man sich hier ängstlich an traditionelle „Werte“ klammert, weil man mit der Wirklichkeit nicht klar kommt. – Sollen auf diese Weise mündige Christen entstehen?

Man braucht doch keine Bibel-Ideologie, um herauszufinden, ob die biblischen Texte für einen selbst wertvoll sind. – Oder will man versuchen damit, die schillernde, auseinander-driftende Christenheit wieder zusammenzuführen?

Wer braucht ein „Evangelium21-Netzwerk“? – Rotten sich hier ein paar religiöse Extremisten zusammen, um die Moral in der Truppe zu stärken?

 

„… Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 13. Kapitel, Vers 12; Bibel, Neues Testament)

 

Wahrhaftig?

Wissen die Macher von Evangelium 21 es nicht besser, oder verbreiten sie hier absichtlich die Unwahrheit:

 

„Wir vertrauen darauf, dass die Bibel entsprechend ihrem Selbstzeugnis das völlig vertrauenswürdige und in allen ihren Aussagen zuverlässige und autoritative Wort Gottes ist.“

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(evangelium21.net)

 

Selbstzeugnis“ ?  – Das ist ja gerade einer der auffälligen Unterschiede zum Koran, dass die Bibel  nicht  sich selbst zum Thema macht. Da die Bibel erst Jahrhunderte nach dem Abfassen der biblischen Texte gemacht worden ist, kann sie das auch gar nicht.

(Das einzig theoretisch denkbare wäre eine biblische Verheißung, dass es später einmal so ein heiliges Buch geben würde. Aber so eine Verheißung gibt es in der Bibel nicht. Noch nicht einmal so etwas wie eine Anspielung auf das Erschaffen eines heiligen Buches in der Zukunft.)

 

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Calvary Church bei Nacht; eine „non-denominational evangelical church“ in Charlotte, North Carolina; Foto von Fartbarker, via Wikimedia Commons – public domain

 

Moderne Kreuzzüge

Im Mittelalter wurden Kriege im Zeichen des Kreuzes geführt. Heute taucht das Wort „unbiblisch“ mancherorts als Kampfbegriff auf; vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Christen. Manche haben sich das Dogma von der Unfehlbarkeit der Bibel auf die Fahne geschrieben und sind ausgezogen, die Wahrheit und die göttliche Autorität der Bibel zu verteidigen. – Heutzutage passiert das zum Glück ohne körperliche Gewaltanwendung.

 

„Alle Menschen sollen eure Güte und Freundlichkeit erfahren …“

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(Paulus im Brief an die Christen in Philippi 4,5; Neues Testament)

 

Evangelium21-Konferenzen

In Hamburg gab es 2016 eine Konferenz der Initiative Evangelium21, zu der internationale Redner angereist waren, um die Autorität der Bibel zu verteidigen. In ihrem Blog finden wir dazu Sätze wie diese:

Christen sollen der Autorität der Heiligen Schrift ganz vertrauen.

Die Bibel ist ein zutiefst verlässliches und vertrauenswürdiges Buch, unfehlbar, heilig und göttlich.

Wenn man der Bibel „Göttlichkeit“ zuspricht, wird sie damit nicht zum Götzen?

Wiedereinmal wird das Dogma von der Unfehlbarkeit der Bibel unkritisch mit dem richtigen christlichen Glauben an Jesus von Nazareth gleichgesetzt und eine „göttliche Autorität der Bibel“ verteidigt. – Woher kommt es, dass so viele Christen mit Eifer eine Lehre verteidigen, die sich noch nicht einmal in dem Buch findet, für dessen Autorität sie sich einsetzen?

 

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Altarbibel auf einem lutherischen Altar; von Leon Brooks [Public domain], via Wikimedia Commons

 

Was ist „biblisch“? Und was „unbiblisch“?

Biblisch“ im engeren Sinne wäre einfach etwas, das zur Bibel gehört oder mit ihr zu tun hat. So könnte man z. B. sagen, dass Matthäus-Evangelium ist ein biblischer Text, weil es ja zur Bibel gehört. Es würde hingegen wegen Sinn machen zu sagen „Kriege sind biblisch“, nur weil Kriege in der Bibel vorkommen. Eher könnte man denken, dass Kriege unbiblisch sind, da es ja in der Bibel heißt: „Du sollst nicht töten!“

Wenn man anfängt, so zu denken, hat schon eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden. Es geht nicht mehr nur darum, ob etwas sachlich mit dem Buch der Bibel zu tun hat, sondern hier wird die Bibel schon als ein Maßstab, also normativ verwendet, für Denken und Handeln.

Das Wort „unbiblisch“ ist auch nicht der genaue Gegensatz zum Begriff „biblisch“, denn es würde z. B . komisch klingen zu sagen, Goethes Zauberlehrling wäre unbiblisch, weil der Text nicht in der Bibel steht (zumindest für meine Ohren). Hingegen könnte man durchaus sagen, dass der Zauberlehrling kein biblischer Text ist.

 

„Als Bibel (altgriechisch βιβλία biblia ‚Bücher‘; daher auch Buch der Bücher) bezeichnet man eine Schriftensammlung, die im Judentum und Christentum als Heilige Schrift mit normativem Anspruch für die ganze Religionsausübung gilt.“

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(Wikipedia)

 

Hat Wikipedia mal wieder recht?

 

Unser Bedürfnis nach Orientierung und die biblischen Texte

Unausgesprochen transportiert das Wort „biblisch“ oft, wenn es gebraucht wird, die Vorstellung, dass man Gottes Offenbarung oder seine Anweisungen für unser Leben eindeutig aus der Bibel ableiten kann. Nicht nur die Bibel selbst soll fehlerfrei sein, sondern auch die Art und Weise, wie wir sie anwenden.

Es würde z. B. keinen Sinn machen zu behaupten, Alkohol trinken sei unbiblisch, wenn es widersprüchliche Aussagen dazu in der Bibel gäbe oder man dies nicht  ein – deutig von ihr ableiten könnte.

Jeder, der sich nur ein bisschen mit dem Christentum beschäftigt hat, weiß, dass es u.a. die unterschiedliche Interpretation der biblischen Texte ist, die zu einer unüberschaubaren Vielzahl von christlichen Kirchen und Gruppen geführt hat. Es drängen sich alleine schon deshalb die Fragen auf:

Sprechen überhaupt alle biblischen Texte deutlich mit  einer  Stimme? Oder begegnet uns in den biblischen Texte eine Vielfalt an unterschiedlichen Stimmen, Perspektiven und Meinungen?

 

„Für die Unverheirateten hat mir der Herr keine ausdrückliche Anweisung gegeben. Aber weil der Herr mich in seiner Gnade zum Dienst berufen hat, sind meine Worte vertrauenswürdig. Darum möchte ich euch meine Meinung sagen…
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Dies ist kein Befehl, sondern meine Meinung, doch ich habe schließlich auch Gottes Geist empfangen.“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 7,25-40; Neues Testament)

 

Wie interpretiert man die Bibel richtig ?  Und wie lässt sich prüfen, ob etwas richtig interpretiert worden ist?

 

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Mose, von José de Ribera via Wikimedia Commons – public domain

 

Heilige Texte im Judentum

Mich erinnern diese Überlegungen an die schier unglaubliche Fülle an Regeln für die Anwendung der Tora (5. Bücher Mose), wie wir sie im Rabbinischen Judentum finden. Wer schon einmal vor einer ungekürzten (!) Ausgabe des Talmud stand, weiß wovon ich rede.

In den Evangelien lesen wir, wie Jesus selbst sich mit dieser jüdischen Tradition auseinandersetzt. (Der Talmud selbst hat so zu Jesu Zeiten noch nicht existiert, aber ein Teil davon, in mündlicher Überlieferung.)

 

Ihr Heuchler! Wie recht hat Jesaja, wenn er von euch schreibt:
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‚Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber mit dem Herzen sind sie nicht dabei. Ihre Frömmigkeit ist wertlos, weil sie ihre menschlichen Gesetze als meine Gebote ausgegeben haben.'“

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(Matthäus-Evangelium 15,7-9; Neues Testament)

 

Hat sich nicht zwischen der Frömmigkeit, die Jesus gelehrt und vorgelebt hat, und der rabbinischen jüdischen Frömmigkeit des 1. Jahrhunderts deutlich etwas verändert?

 

„… der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. “

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(Paulus im zweiten Brief an die Christen in Korinth 3,6; Neues Testament)

 

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von Fra Angelico (circa 1395–1455) via Wikimedia Commons – public domain

 

Einfach Jesus

Inhalt, Qualität und Vielfalt der biblischen Texte inspirieren mich. Vor allem aber sind es das Leben und die Lehre Jesu, die mich gepackt haben (und auch von Paulus bin ich begeistert).

 

„Darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir…“

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(Paulus im Brief an die Christen in Galatien 2,20)

 

Die neutestamentlichen Texte sind die besten Zeugnisse über Jesus, die wir haben. Deshalb sind sie auch so wichtig.  Es geht beim christlichen Glauben in erster Linie um einen  Menschen,  Jesus von Nazareth  (von dem wir glauben, dass er der Messias Gottes, der Christus, ist), und um Menschlichkeit und Liebe (und nicht um Texte und deren Anwendung). Alle anderen Fragen sind zweitrangig. – Wir nennen uns ja auch nicht „Biblianer“ oder „Biblizisten“, sondern Christen.

 

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Benedikt von Nursia; Foto von Gerd A.T. Müller, via Wikimedia Commons – GNU-FDL, https://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:GNU_Free_Documentation_License,_version_1.2

 

schein-heilig

Wenn Menschen die Bibel als heiliges Buch kaufen, lesen und benutzen, haben sie die Aufmerksamkeit auf Texte gerichtet und nicht mehr auf den Geist und das Heilige, auf das die Texte ja eigentlich selbst verweisen. Man verehrt ein Buch und beschäftigt sich mit Texten.

Ist dies der beste Weg sich für den Geist zu öffnen, aus dem heraus die Texte entstanden sind? – Eine der größten Gefahren für Christen sind Ablenkungen und Versuchungen; und über Texte kann man ja auch viel leichter verfügen und sie als Machtinstrumente benutzen…

Was sind das für Menschen, die unbedingt ein heiliges Buch besitzen wollen? Wer braucht eindeutige Aussagen, klare Ansagen und feste Regeln? Was sagt dieses Bedürfnis aus über ihre Persönlichkeit?

Wer innere Festigkeit besitzt und geistlich erfahren ist, kann sich auch dem Chaos und Herausforderungen des Lebens eher stellen.

 

„Wer nun auf das hört, was ich gesagt habe, und danach handelt, der ist klug. Man kann ihn mit einem Mann vergleichen, der sein Haus auf felsigen Grund baut. Wenn ein Wolkenbruch niedergeht, das Hochwasser steigt und der Sturm am Haus rüttelt, wird es trotzdem nicht einstürzen, weil es auf Felsengrund gebaut ist …“

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(Jesus am Ende der Bergpredigt, Matthäus-Evangelium 7,24-25)

 

„Gut gemeint“?

Das ist eine Entschuldigung, die oft gebracht wird:

„Aber es ist doch gut gemeint!“

Wie gut kann etwas gemeint sein, wenn ich versuche meine Überzeugung anderen aufzuzwingen und meine Meinungen durchzusetzen? Mit wem meint man es da gut? Mit sich selbst und seines Gleichen?

 

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Petersplatz im Morgengrauen, mit Petersdom (Vatikan), Foto von Islandoftrees via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

 

Christen, die nicht in der Lage sind, sich selbst und ihre Überzeugungen kritisch zu hinterfragen, stehen in der Gefahr der Sache Gottes trotz ihres Eifers einen echten Bärendienst zu erweisen.

 

„Denn an Eifer für Gottes Sache fehlt es ihnen nicht; das kann ich bezeugen. Was ihnen fehlt, ist die richtige Erkenntnis.“

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(Paulus im Brief an die Christen in Rom 10,2)

 

Einander dienen

Wir haben nicht den Auftrag, einander den Kopf zu waschen, sondern die Füße.

Aber mache ich das nicht auch gerade? Versuche anderen Christen „den Kopf zu waschen“?

 

„Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben …“

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(Johannes-Evangelium 13,14-15; Neues Testament)

 

Ich erwarte nicht, dass all die Bibel-Ideologen von heut auf morgen ihre Überzeugung ändern. – Religion ist eine komplexe Angelegenheit. – Aber ich würde mir wünschen, dass sie vorsichtiger in ihrem Auftreten, mit ihren Ansprüchen und Formulierungen wären, und deutlich machen, dass sie für sich selbst persönliche Glaubensentscheidungen getroffen haben, wo andere Christen anders entscheiden. Ich hoffe, es wird auch durch diesen Artikel deutlich, dass es Christen gibt, die Bibel-Ideologie ablehnen.

Für die eigene Meinung göttliche Autorität zu beanspruchen ist eine gewagte Angelegenheit, für die man dann auch die Verantwortung übernehmen muss. Oft werden Menschen nachdenklicher und vorsichtiger, wenn sie Menschen besser kennenlernen, die auch tiefe religiöse Überzeugungen haben – aber andere.

 

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von Tinette (Nutzer der Italienischen Wikipedia) via Wikimedia Commons – GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

 

rechthaberisch

Es ist not-wendig, dass wir uns von einer unsäglichen Kultur der Rechthaberei (nicht gerade eine der christlichen Tugenden) distanzieren, um uns einen frischen, heilsamen Zugang zu den biblischen Texten zu erarbeiten. Ein enges Bibelverständnis nur zu kritisieren ist allerdings etwas unbefriedigend, wenn man nicht auch Wege aufzeigt, wie die biblischen Texte heute noch Licht in unsere Dunkelheit bringen können.

Ein leidenschaftliches Engagement für die Wahrheit der Bibel mag gut gemeint sein, aber das alleine verhindert leider nicht, dass wir mit der Bibel Menschen schaden. Gute Absichten alleine sind nicht ausreichend, sondern wir müssen auch verstehen, und brauchen eine Kultur der kritischen Distanz zur eigenen Überzeugung.

 

„Nehmt vielmehr bereitwillig Gottes Botschaft an, die er wie ein Samenkorn in euch gelegt hat. Sie hat die Kraft, euch zu retten.

Allerdings genügt es nicht, seine Botschaft nur anzuhören; ihr müsst auch danach handeln. Alles andere ist Selbstbetrug!

Wer Gottes Botschaft nur hört, sie aber nicht in die Tat umsetzt, dem geht es wie einem Mann, der in den Spiegel schaut. Er betrachtet sich, geht wieder weg und hat auch schon vergessen, wie er aussieht.

Ganz anders ist es dagegen mit dem, der nicht nur hört und es dann wieder vergisst, sondern auch danach handelt. Er beschäftigt sich gründlich mit Gottes vollkommenem Gesetz, das uns durch Christus gegeben ist und uns frei macht.“

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(Jakobusbrief 1,21-25)

[ Mit „Gottes vollkommenem Gesetz“ ist hier offensichtlich nicht die Bibel gemeint.  😉 ]

 

Abschied

Wir brauchen Mut, um liebgewonnene Traditionen aufzugeben oder sie zumindest erst einmal in Frage zu stellen. Ich kann die Sorge um den Verlust wichtiger Werte verstehen.

Aber ist es intellektuell redlich, wenn man an einem Konzept festhält und es verkündigt, nur weil man keine Alternative dazu sieht? – Man sollte nicht eine Erklärung als die Wahrheit verkaufen, nur weil man für sich selbst noch keine andere Erklärung gefunden hat.

Oft habe ich die Aussage gehört, dass wenn man an der Autorität der Bibel rüttelt, am Ende gar nichts mehr übrig bleibt. – Ich hoffe, dass ihr auf meinem Blog genug Belege dafür findet, dass dies nicht der Fall ist.

 

[Dies ist die neuere Überarbeitung eines älteren Artikels, welchen ihr mit Kommentaren hier findet.]

 

Der Heilige Paulus, auch Rabbi Schaul genannt, und eine nicht mehr ganz so neue „New Perspective“

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Römische Straße bei Tarsus, Foto von Nedim Ardoğa via Wikimedia Commons – CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

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„… ich bin zusammen mit dem Messias gekreuzigt worden. Nicht mehr ich bin es, der jetzt lebt, nein, sondern der Messias lebt in mir. Und solange ich noch dieses irdische Leben habe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sich selbst für mich hingegeben hat.“
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(Paulus im Brief an die Christen in Galatien; Bibel; Neues Testament; 2. Kapitel, Verse 19-20)

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Paulos von Tarsus (Tarsos)

„Paulus“ ist schon die latinisierte Version des griechischen Namens „Paulos“, welcher wiederum vom hebräischen Namen „Schaul“ (= Saul) abgeleitet bzw. an ihn angelehnt ist.

Paulus, der „Heidenapostel“, ist sicherlich der bedeutendste Christ, der je gelebt hat. Man denke nur an seine Bedeutung für die Reformation und den Protestantismus. Aber schon in der Antike hatten seine Missions-Aktivitäten und seine Texte gewaltige Bedeutung. Wer sich fürs Christentum interessiert, sollte sich unbedingt auch mit diesem antiken orientalischen Missionar und Bürger des Imperium Romanum mit jüdischer Abstammung beschäftigen.

Viele Themen würden in der christlichen Welt heutzutage anders diskutiert werden, wenn es nicht bestimmte Aussagen in Texten von Paulus gäbe: Homosexualität, Ehescheidung, Kindertaufe, Geistesgaben, Gemeindeleitung, Auferstehung, Gemeindedisziplin, Bibel-Inspiration, …  Schon allein deswegen ist das Verstehen, Missverstehen und Missbrauchen seiner Texte von so großer Bedeutung.

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„Denn das steht unumstößlich fest, darauf dürfen wir vertrauen: Jesus Christus ist in diese Welt gekommen, um uns gottlose Menschen zu retten. Ich selbst bin der Schlimmste von ihnen.“

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(Paulus im ersten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus 1,15)

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Ein Mann mit einer Vergangenheit

Heute scheint immer mehr religiösen Menschen bewusst zu werden, wie wichtig die eigene Biografie ist für das, was man glaubt – oder auch nicht glaubt.

Paulus. Wer war dieser Mann? Wo und wie ist er aufgewachsen? Wie war seine Familie? Was hat ihn geprägt? Wie hat er Jesus kennengelernt? Wie ist er ein Anhänger und Botschafter für Jesus geworden?

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„Was meinen früheren Lebensweg betrifft, so gibt es daran nichts, was nicht allen Juden bekannt wäre, habe ich doch von meiner Jugend an mitten unter meinem Volk in Jerusalem gelebt.
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Alle wissen – und können es, wenn sie nur wollen, jederzeit bezeugen – , dass ich damals der strengsten Richtung unserer Religion angehörte, derjenigen der Pharisäer, und ihren Regeln entsprechend gelebt habe.“
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(Paulus in der Apostelgeschichte; Neues Testament; 26,4-5)

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Magst du Paulus?

Ich bin Paulus-Fan. Nicht, dass ich alles an ihm gut finde oder seine Texte als „Wort Gottes“ betrachte. Mich beeindruckt vor allem sein Engagement für Menschen und für die Sache Gottes. Sein Brief an Philemon ist einer meiner Lieblingstexte in der Bibel. Auch viele andere Paulus-Texte begleiten mich schon seit meiner Kindheit und sind mir wertvoll.

Magst du Paulus? Wie stehst du so rein emotional zu ihm? Würdest du mit ihm gerne mal ein Bier trinken gehen? Oder würdest du um den Super-Heiligen eher einen weiten Bogen machen? Oder hältst du ihn für einen komischen antiken Christen mit verstaubten Vorstellungen von Christsein und Gemeinde? Oder vielleicht sogar für einen Irrlehrer, der die wahre Botschaft Jesu verdreht hat?

Paulus war  nicht  einer von den Jüngern des Rabbis Jesus aus Galiläa gewesen, der mit Jesus durch die Gegend gezogen war. Er war kein Augenzeuge der Taten von Jesus oder Ohrenzeuge der Worte von Jesus. Er hatte sogar die Anhänger von Jesus gewaltsam verfolgt, und es gab damals so manchen Christen, der zu Paulus auf Distanz ging.

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„Dann sagten sie zu Paulus:
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‚Du siehst, lieber Bruder, dass auch bei den Juden Tausende zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, und alle halten sich weiterhin streng an das Gesetz des Mose.
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Über dich jedoch hat man ihnen erzählt, du würdest die Juden, die unter den anderen Völkern leben, samt und sonders zum Abfall von Mose auffordern, indem du lehrst, sie müssten ihre Söhne nicht mehr beschneiden lassen und müssten überhaupt nicht länger nach den Vorschriften des Gesetzes leben.
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Was können wir tun, um diesen Behauptungen entgegenzutreten? Schließlich werden unsere Geschwister hier mit Sicherheit erfahren, dass du nach Jerusalem gekommen bist.
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Unser Vorschlag ist, dass du Folgendes machst:
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Vier Männer aus unseren Reihen haben sich Gott mit einem Gelübde geweiht und sich dazu verpflichtet, eine Zeitlang keinen Wein zu trinken und sich das Haar nicht schneiden zu lassen. Sei ihnen dabei behilflich, indem du dich zusammen mit ihnen der vorgeschriebenen Reinigung unterziehst und alle anfallenden Kosten übernimmst, damit sie die Weihezeit ordnungsgemäß mit den erforderlichen Opfern und dem Abschneiden der Haare beenden können.
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Dann werden alle sehen, dass von dem, was ihnen über dich erzählt wurde, kein Wort wahr ist und dass auch du in Übereinstimmung mit dem Gesetz lebst und seine Vorschriften befolgst.'“

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(Apostelgeschichte 21,20-24)

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Wenn du mit Paulus reden könntest, worüber würdest du reden? Würdest du ihn gerne was fragen? Was denn genau?

Wie wir persönlich zu diesem Mann stehen, hat dann auch damit zu tun, wie wir mit seinen Texten umgehen. Eine andere Sicht auf diesen Mann würde auch das Christentum verändern.

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Die „Neue Perspektive auf Paulus“

Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel mit diesem Titel.

Seit den 60er Jahren wird die Frage diskutiert, ob man die Paulus-Texte nicht mit einer falschen theologischen Brille gelesen hat, indem man spätere theologische Fragestellungen in die Texte hinein gelesen hat.

E. P. Sanders versuchte die Texte im Zusammenhang der jüdischen Frömmigkeit des 1. Jahrhunderts zu verstehen. Gemäß James Dunn war es dann N. T. Wright der den Ausdruck „new perspective on Paul“ das erste Mal benutzte.

Die Diskussion darüber, wie wir Paulus am besten verstehen können, wird sicherlich noch lange andauern. Dies hat u.a. auch damit zu tun, in welchem Umfang die Bibelübersetzungen, die wir benutzen, von bestimmten theologischen Vorverständnissen und Annahmen beeinflusst sind, die eventuell korrigiert werden müssen.

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„Einiges in seinen [Paulus] Briefen ist allerdings schwer zu verstehen, was dazu führt, dass die Unbelehrbaren und Ungefestigten es verdrehen.“

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(Zweiter Petrusbrief 3,16)

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„Vom Saulus zum Paulus“

Es gibt kaum eine andere neutestamentliche Gestalt, bei der der Bruch so drastisch ist. Vom Verfolger zum Verfolgten. Hat das Schwert abgelegt und das Wort ergriffen. Freunde wurden zu Feinden, und Feinde zu Schwestern und Brüdern. Und sogar die unreinen Heiden wurden Teil der Familie.

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„Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Christus seid ihr alle eins.“

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(Paulus im Brief an die Christen in Galatien 3,28)

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Einen  Bruch hat Paulus allerdings nicht vollzogen: Den Bruch mit dem Judentum.

So, wie die ersten Christen, verstand sich auch Paulus nicht als jemand, der sich vom Judentum verabschiedet hat, sondern er verstand sich als ein „wahrer Jude“.

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„Auch die Beschneidung nützt euch [beschnittenen Juden] nur, wenn ihr das Gesetz befolgt. Wenn ihr es übertretet, steht ihr in Wahrheit den Unbeschnittenen gleich.

Wenn aber nun Unbeschnittene nach den Vorschriften des Gesetzes leben – werden sie dann nicht von Gott den Beschnittenen gleichgestellt? So kommt es dahin, dass Unbeschnittene einst über euch Juden das Urteil sprechen werden. Solche nämlich, die das Gesetz Gottes befolgen, während ihr es übertretet, obwohl ihr es schriftlich habt und beschnitten seid.

Beim Judesein geht es nicht um äußerliche Merkmale und bei der Beschneidung nicht um den äußeren, körperlichen Vollzug. Die wahren Juden sind die, die es innerlich sind, und die wahre Beschneidung ist die Beschneidung des Herzens, die nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes erfolgt, sondern durch den Geist Gottes.

Juden in diesem Sinn suchen nicht den Beifall der Menschen, aber sie werden bei Gott Anerkennung finden.“

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(Paulus im Brief an die Christen in Rom 2,25-29)

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Im Laufe der Kirchengeschichte distanzierten sich bald Menschen, die sich für Christen hielten, von Juden und vom Judentum. Der Gläubige sägte den Ast ab, auf dem er saß. Der eingepropfte Zweig riss sich selber aus. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, dass mancher Christ seinen eigenen Glauben nicht mehr verstand und dem Namen nach „Christliches“ zur Unkenntlichkeit entstellt wurde.

Der jüdisch-christliche Dialog wird sicherlich auch eine Chance sein, unser Paulusbild und sogar unser Verständnis des christlichen Glaubens zu korrigieren, und im ökumenischen und inter-religiösen Dialog besser zu verstehen, worum es eigentlich geht.

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Der Mystiker Paulus

In letzter Zeit wird auch einer Seite von Paulus noch mehr Beachtung geschenkt, die in all den theologischen Diskussionen seiner Texte bisher vernachlässigt worden ist:

Paulus war ein Mystiker.

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„Auf dem Weg nach Damaskus – es war gegen Mittag, und wir hatten die Stadt schon fast erreicht – leuchtete plötzlich vom Himmel her ein Licht auf. Von allen Seiten umgab mich ein unbeschreiblich heller Glanz, sodass ich geblendet zu Boden stürzte. Dann hörte ich eine Stimme zu mir sagen:
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›Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‹
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›Wer bist du, Herr?‹
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fragte ich, worauf die Stimme antwortete:
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›Ich bin der, den du verfolgst – Jesus von Nazaret.‹
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Meine Begleiter sahen zwar das Licht, verstanden aber nicht, was die Stimme sagte, die mit mir sprach.
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›Herr‹, sagte ich, ›was soll ich tun?‹
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›Steh auf und geh nach Damaskus!‹ antwortete der Herr. ›Dort wird dir genau gesagt werden, wozu du beauftragt bist und was du tun sollst.‹ …
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Später, als ich wieder in Jerusalem war und im Tempel betete, hatte ich eine Vision. Ich sah Jesus, und er sagte zu mir: ›Verlass Jerusalem, so schnell du kannst! Lass dich durch nichts aufhalten! Denn die Menschen hier werden nicht annehmen, was du ihnen als mein Zeuge über mich berichtest.‹
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›Aber Herr‹, wandte ich ein, ›gerade sie müssten mir doch Glauben schenken. Sie wissen ja, dass ich von einer Synagoge zur anderen ging, um die, die an dich glauben, gefangen nehmen und auspeitschen zu lassen. Und sie wissen auch, dass ich damals, als dein Zeuge Stephanus sein Leben ließ, voll und ganz mit seiner Hinrichtung einverstanden war. Ich stand nicht nur dabei, sondern bewachte die Kleider, die seine Gegner abgelegt hatten, um ihn zu steinigen.‹
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Aber Jesus erwiderte: ›Mach dich auf den Weg! Ich werde dich zu anderen Völkern in weit entfernten Ländern senden.‹“
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(Rede von Paulus in der Apostelgeschichte 22,6-21)

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Der weite Blick

Heute, fast zwei Jahrtausende nach Paulus, haben wir die Möglichkeit, sein Leben in einem noch größeren Zusammenhang zu sehen. Einen brauchbaren theoretischen Rahmen dafür bietet z.B. die Integrale Theorie. Auf diese Weise kann man das Leben und die Frömmigkeit von Paulus in einem religions- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang betrachten und auch moderne entwicklungspsychologische Aspekte berücksichtigen. Anregungen dazu findet ihr z.B. hier.

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„Reformation war gestern. Die Zukunft des Christentums gehört der Transformation.“

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(Marion Küstenmacher auf dem Cover ihres Buches „Integrales Christentum“)

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Paulus, der Mystiker

 

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Der Apostel Paulus, Gemälde von Bartolomeo Montagna (1482), via Wikimedia Commons – public domain

 

„Paulus, Diener Jesu Christi, an die Gemeinde in Rom. Gott hat mich zum Apostel berufen und dazu bestimmt, seine Botschaft bekannt zu machen …“

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(Anfang von Paulus‘ Brief an die Christen in Rom; Bibel, Neues Testament; 1. Kapitel, Vers 1)

 

Ein sonderbarer Apostel – ein komischer Heiliger

Paulus war ein merkwürdiger Apostel – denn er war ja gar nicht einer von den Zwölfen und gehörte nicht zur Jesus-Community, als dieser als Wanderprediger durch Palästina gezogen war.

Kein Wunder, dass er seine Berufung und seinen Dienst als Apostel immer wieder verteidigen musste. (Noch dazu hatte er die Christen verfolgt, bevor er selbst zum Anhänger von Jesus wurde.)

Die ausführlichste Verteidigung seiner Autorität haben wir im zweiten Brief an die Christen in Korinth. Eine Gemeinde, mit der er eng verbunden war.

Die Verteidigung seiner Autorität findet ihren Höhepunkt in der Erwähnung einer mystischen Erfahrung:

 

„Ich bin – wie gesagt – gezwungen, mich selbst zu rühmen. Eigenlob nützt zwar nichts; trotzdem will ich nun noch auf Visionen und Offenbarungen vonseiten des Herrn zu sprechen kommen:

Ich kenne einen Menschen, der zu Christus gehört und der – es ist jetzt vierzehn Jahre her – bis in den dritten Himmel versetzt wurde. Ob er dabei in seinem Körper war, weiß ich nicht; ob er außerhalb seines Körpers war, weiß ich genauso wenig; Gott allein weiß es.

Auf jeden Fall weiß ich, dass der Betreffende ins Paradies versetzt wurde (ob in seinem Körper oder ohne seinen Körper, weiß ich – wie gesagt – nicht; nur Gott weiß es) und dass er dort geheimnisvolle Worte hörte, Worte, die auszusprechen einem Menschen nicht zusteht.

Im Hinblick auf diesen Menschen will ich mich rühmen; an mir selbst jedoch will ich nichts rühmen – nichts außer meinen Schwachheiten …

Jetzt hab ich mich wie ein Clown aufgeführt, und ihr habt mich dazu gezwungen!“

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(Paulus im zweiten Brief an die Christen in Korinth 12,1-11)

 

Der Mystiker Paulus

Dies ist nicht der einzige Paulus-Text mit einer mystischen Dimension. Schon die Ursache seiner radikalen Lebenswende war eine mystische Erfahrung gewesen (Apostelgeschichte 9). Und auch später in der Szene seiner Gefangennahme in Jerusalem erwähnt Paulus eine mystische Erfahrung (Apostelgeschichte 22,17-21).

 

„… ich bin durch das Urteil des Gesetzes dem Gesetz gegenüber gestorben, um von jetzt an für Gott zu leben. Ich bin mit Christus gekreuzigt.
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Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir. Und solange ich noch dieses irdische Leben habe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sich selbst für mich hingegeben hat.“
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(Paulus im Brief an die Christen in Galatien 2,19-20)

 

Ein gekreuzigter Apostel

Paulus identifizierte sich mit Jesus. Nicht nur Jesus war am Kreuz hingerichtet worden, sondern er, Paulus, ist auch dort gestorben, und ist mit Jesus auferstanden in ein neues Leben.

In blindem religiösen Eifer hatte er das Volk Gottes verfolgt. Eine Erfahrung, die ihn tief prägte.

Nach seiner Bekehrung wurde er zum Bruder und Mitarbeiter derer, die er zuvor mit aller Schärfe verfolgt hatte. Dies war nur möglich, weil er als Bruder angenommen worden war. Er hatte Vergebung erfahren – von Gott und Menschen.

 

„… ausgerechnet mich, der ich ihn früher verhöhnt und seine Gemeinde mit äußerster Härte verfolgt hatte. Aber er hat sich über mich erbarmt, weil ich in meinem Unglauben nicht wusste, was ich tat.
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Geradezu überwältigend war die Gnade, die unser Herr mir erwiesen hat, und sie hat in mir einen Glauben und eine Liebe entstehen lassen, wie sie nur durch Jesus Christus möglich sind.
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Ja, Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten. Auf dieses Wort ist Verlass; es ist eine Botschaft, die vollstes Vertrauen verdient. Und einen größeren Sünder als mich gibt es nicht!
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Doch gerade deshalb hat sich Jesus Christus über mich erbarmt: An mir als dem größten aller Sünder wollte er zeigen, wie unbegreiflich groß seine Geduld ist; ich sollte ein ermutigendes Beispiel für alle sein, die sich ihm künftig im Glauben zuwenden, um das ewige Leben zu erhalten.“
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(Paulus im ersten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus 1,13-16)

 

Paulus als Schriftsteller

Fast die Hälfte der neutestamentlichen Texte werden Paulus zugeschrieben. Er ist mit Sicherheit der bedeutendste Christ, der jemals gelebt hat. Seinen Einfluss kann man kaum überschätzen. Man braucht nur an Martin Luther und die Reformation denken.

Auch in der Theologie-Geschichte hat er überragende Bedeutung. Römerbrief-Kommentare waren Meilensteine.

Dennoch kann man ihn eigentlich gar nicht als Schriftsteller bezeichnen. Paulus war ein Mann der Praxis. Seine neutestamentlichen Texte sind alles Briefe (!) – also Gelegenheitsschriften. Es waren konkrete Anlässe, die ihn jeweils motiviert hatten zur Feder zur Greifen und einen Brief zu schreiben. Auch beim so „dogmatisch“ erscheinenden Römerbrief.

 

„… Die Geduld, die unser Herr mit uns hat, bedeutet unsere Rettung.
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So hat es euch ja auch unser lieber Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben, und dasselbe sagt er in allen Briefen, wenn er über diese Dinge spricht.
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Einiges in seinen Briefen ist allerdings schwer zu verstehen …“
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(Zweiter Petrusbrief 3,15-16)

 

Ein missverstandener Apostel

Seit fast 2000 Jahren wird Paulus kommentiert und erklärt; und meistens von Menschen, die kein Gespür für die Tiefe und das Wesen der mystischen Seite von Paulus haben.

 

Lese-Empfehlung

Richard Rohr: „Paulus – der unbekannte Mystiker“

 

„Was ich auch immer für euch erleiden muss, nehme ich gern auf mich; ich freue mich sogar darüber. Das Maß der Leiden, die ich für Christus auf mich nehmen muss, ist noch nicht voll. Und ich leide für seinen Leib, für seine Gemeinde.“

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(Kolosserbrief 1,24)

 

Deine Bibel, meine Bibel – Über das willkürliche Deuten biblischer Texte

 

Gott ist kein Schriftsteller

 

Übersicht

1.  Wozu Bibel lesen?

2.  Bibel „verstehen“ oder „deuten“?

3.  Vorstellungen von der Bibel

4.  Über den Umgang mit heiligen Texten

5.  Die Stimme Gottes im Herzen des Menschen

 


 

1.  Wozu Bibel lesen?

Es gibt viele unterschiedliche Gründe, weshalb Menschen zur Bibel greifen. Was dabei am Ende herauskommt, hängt davon ab, was Menschen antreibt.

 

„Bittet Gott, und er wird euch geben! Sucht, und ihr werdet finden! Klopft an, und euch wird die Tür geöffnet!“

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(Jesus in der Bergpredigt; Bibel, Neues Testament, Matthäus-Evangelium, 7. Kapitel, Vers 7)

 


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2.  Bibel „verstehen“ oder „deuten“?

Über das willkürliche Deuten biblischer Texte

 

Die beiden deutschen Worte „verstehen“ und „deuten“ sind in ihrer Bedeutung nicht identisch. Das Wort „verstehen“ suggeriert ein eher passives Erkennen des Sinns oder einer Absicht, wobei ein „richtiges Verstehen“ meist implizit ist („ich verstehe dich“); während das Wort „deuten“ ein aktiveres Herstellen eines Sinnes bezeichnet, bei dem die Subjektivität und mögliche Fehlerhaftigkeit in der Bedeutung mitschwingt.

 

„Denn was wir erkennen, ist immer nur ein Teil des Ganzen …“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth; Neues Testament; 13,9)

 

Willkür

“ Willkürliches  Deuten.“ – Klingt irgendwie nicht so gut. – Was soll bei Willkür schon Gutes herauskommen? – Wer Willkür am eigenen Leib erfahren hat, wird wohl eher einen weiten Bogen darum machen.

 

„Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.“

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(Johann Jakob Wilhelm Heinse)

 

„Ganzheitliches Bibelverständnis“

Dies war der ursprüngliche Titel der ersten Version dieses Artikels, welcher übrigens der allererste Artikel meines Blogs war. Ihr findet ihn schnell, wenn ihr „Ganzheitliches Bibelverständnis“ in eine Suchmaschine eingebt. (Der Ausdruck „Ganzheitliches Bibelverständnis“ scheint wohl nicht so gebräuchlich zu sein. Ich mag ihn allerdings immer noch.)

Ich würde den ursprünglichen Artikel heute nicht mehr so formulieren. Deswegen also nun hier: die zweite Version  🙂

 

„Die Unterweisung in der Lehre unseres Glaubens hat nur das eine Ziel: die Liebe, die aus einem reinen Herzen, einem guten Gewissen und einem aufrichtigen Glauben kommt.

Dieses Ziel haben jene Leute aus den Augen verloren, und daher ist alles, was sie von sich geben, leeres Gerede.  Sie wollen Lehrer des Gesetzes sein, das Gott durch Mose gegeben hat, und dabei verstehen sie nichts von dem, wovon sie reden und worüber sie solche selbstsicheren Behauptungen aufstellen.“

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(Paulus im ersten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus 1,5)

 

„Bibelverständnis“

Warum ist dieser Begriff problematisch? – Weil er suggeriert, dass man biblische Texte „richtig verstehen“ kann. Ich glaube zwar auch, dass es biblische Texte gibt, die man richtig verstehen kann; aber das Problem liegt darin, dass Juden und Christen schon sehr viel Zeit und Kraft damit verbracht haben, sich über das „richtige Verständnis“ biblischer Texte streiten.

Wie kann man denn überprüfen, ob man einen Text richtig verstanden hat? – Wir können die Menschen, welche die Texte aufgeschrieben haben, ja nicht mehr fragen. Und wenn wir Gott fragen … was würde er wohl antworten?

 

 

Der erste Artikel meines Blogs

Der erste Artikel meines Blogs (also die erste Version dieses Artikels) basierte auf einer E-Mail, die ich Wolfgang Nestvogel als Anfrage an sein Bibelverständnis geschrieben hatte, nachdem ich einen Vortrag von ihm gehört hatte. – Leider habe ich nie eine Antwort bekommen, und wir haben uns nie über sein Bibelverständnis austauschen können.

Wolfgang Nestvogel ist Rektor der Akademie für Reformatorische Theologie (ART) und Pastor der Bekennenden Evangelischen Gemeinde (BEG) Hannover (Quelle: wolfgang-nestvogel.de).

Tja, wir alle glauben halt, was wir glauben wollen …

 

„… niemals wurde eine Prophetie durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“

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(Zweiter Petrusbrief; Neues Testament; 1,21)

 

will-kür-lich

Wenn wir einen Text lesen (was schon einmal voraussetzt, dass wir die Sprache verstehen), dann versuchen wir un-willkürlich – sozusagen vollautomatisch – ihn zu deuten. Es gibt gar kein Verstehen ohne Interpretation. Wir merken das, wenn wir z.B. eine Gebrauchsanweisung oder juristisches Kleingedrucktes lesen, wo wir zwar die einzelnen Worte eigentlich kennen, aber es trotzdem für uns keinen Sinn ergibt.

In „will-kür-lich“ steckt das Wort „Wille“. Wir  wollen ,  dass die Worte für uns Sinn machen. Unser Verstand ist dafür gemacht, Sinnzusammenhänge herzustellen. Dadurch ist es uns möglich zu lernen. – Wenn wir etwas falsch gedeutet haben, können wir die Deutung korrigieren. Wenn wir jedoch gar keinen Sinn erkennen können, geht das Gelesene höchstwahrscheinlich wieder verloren, weil es sich mit keiner Bedeutung in unserem Leben verbinden kann. Es bleibt nichts hängen.

 

„Wenn jemand die Botschaft vom Himmelreich hört und nicht versteht, ist es wie mit der Saat, die auf den Weg fällt. Der Böse kommt und raubt, was ins Herz dieses Menschen gesät worden ist.“

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(Jesus im Matthäus-Evangelium 13,19)

 

„ganzheitlich“

Es geht mir um einen gesunden Umgang mit den biblischen Texten, der möglichst viele Aspekte berücksichtigt, uns selbst positiv verändert und auch keine (oder möglichst wenig) unerwünschte Nebenwirkungen hat. Ein Umgang, der die Bibel für uns selbst und die Menschen unserer Zeit wertvoller macht.

Dies wollen im Grunde wahrscheinlich irgendwie die meisten Bibelleser. Aber wie können wir die Wirkungen überprüfen? Besteht überhaupt die Gefahr, dass Bibellesen unerwünschte Nebenwirkungen hat? Kann man zu viel in der Bibel lesen? Die Bedeutung der Bibel überschätzen?

 

„…alles, was in der Schrift steht, ist von Gottes Geist eingegeben, und dementsprechend groß ist auch der Nutzen der Schrift: Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen.

So ist also der, der Gott gehört und ihm dient, mit Hilfe der Schrift allen Anforderungen gewachsen; er ist durch sie dafür ausgerüstet, alles zu tun, was gut und richtig ist.“

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(Paulus in seinem zweiten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus 3,16-17)

 

schwarz-weiß

Schwarz-Weiß-Denken ist so schön einfach. Das macht es auch so attraktiv. Es ist so praktisch. Nicht unbedingt immer leicht anzuwenden, aber es gibt immer eine eindeutige Orientierung: Klare Ansagen und eine bestimmte Richtung …

Aber unser Leben hat nicht nur viele Grau-Stufen. Leben ist bunt. Wild. Nicht in den Griff zu kriegen …

Schwarze Buchstaben auf weißem Grund. Der Versuch Bedeutendes ans vergängliche Papier zu heften.

Als Christen glauben wir ja eigentlich, dass Gott sich am besten nicht in heiligen Texten, sondern in einem Menschen aus Fleisch und Blut offenbart hat: Dem Juden Jesus aus Nazareth in Galiläa, geboren in Bethlehem zur Zeit der römischen Besatzung, noch vor der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem und der Auslöschung jüdischen gesellschaftlichen Lebens in Palästina im zweiten Jahrhundert nach Christus.

 

„Ihr selbst seid unser Empfehlungsbrief, geschrieben in unsere Herzen, ein Brief, der allen Menschen zugänglich ist und den alle lesen können. Ja, es ist offensichtlich, dass ihr ein Brief seid, den Christus selbst verfasst hat und der durch unseren Dienst zustande gekommen ist.

Er ist nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, und die Tafeln, auf denen er steht, sind nicht aus Stein, sondern aus Fleisch und Blut; es sind die Herzen von Menschen.“

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(Paulus im zweiten Brief an die Christen in Korinth 3,2-3)

 

menschlich – göttlich

Wenn fromme Menschen heilige Texte lesen, tun sie dies im Glauben, dass es nicht nur Worte von Menschen sind, sondern dass Gott selbst hier spricht. Es ist diese Doppelnatur heiliger Texte, die sie so kraftvoll sein lassen. Menschlich. Göttlich. Schwierig und gefährlich und nicht in den Griff zu kriegen …

Mich erinnert dies an die uralten Diskussionen und Spekulationen über die Natur von Jesus … – all die christologischen Streitereien. So alt wie das Christentum selbst. Die Doppel-Natur von Jesus. – Gott. Mensch. Nicht in den Griff zu kriegen …

 

„Es geht mir darum, dass ihr gestärkt und ermutigt werdet und dass ihr in Liebe zusammenhaltet. Dann werdet ihr eine tiefe und umfassende Erkenntnis erlangen, ein immer größeres Verständnis für das Geheimnis Gottes.
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Christus selbst ist dieses Geheimnis; in ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen. Ich sage das, damit euch niemand mit kluger Überredungskunst auf einen falschen Weg führt.“
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(Kolosserbrief; Neues Testament; 2,2-4)

 

„ganzheitlich“ oder „homogen“

Das Wort „ganzheitlich“ hier bitte nicht mit „homogen“ verwechseln. Ich behaupte nicht, dass die Bibel einen „homogenen“ Inhalt besitzt und widerspruchsfrei wäre. (Eher glaube ich das Gegenteil.)

Auch gegenüber einem „homogenen“, einheitlichen Bibelverständnis bin ich skeptisch. Bei der Vielfalt all der Texte und Autoren … – sollte es da wirklich eine  Auslegungsmethode geben, die für alle passt?

 

„Viele Male und auf verschiedenste Weise sprach Gott in der Vergangenheit durch die Propheten zu unseren Vorfahren. Jetzt aber, am Ende der Zeit, hat er durch seinen Sohn zu uns gesprochen …“
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(Brief an die Hebräer; Neues Testament; 1,1-2)

 

„Bibelverständnis“

Das Thema an sich ist riesig. Ich möchte das mal in meinem Kopf sortieren in die Bereiche „die Vorstellung, die ich von der Bibel habe“ und „wie ich mit ihr umgehe“. – Die beiden Aspekte hängen natürlich zusammen und beeinflussen sich wechselseitig.

Dazu fallen mir dann auch noch Fragen ein, wie:

 

Warum beschäftigst du dich eigentlich mit der Bibel?

Hat sich das bis jetzt für dich gelohnt? Bringt dir das was? Was genau?

Was wünschst du dir von der Bibel?

 

Ich hab mir die Fragen auch selbst grad gestellt, und war überrascht …

 

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

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(aus der „Glaubensbasis der Evangelischen Allianz vom 2. September 1846, überarbeitet 2018„)

 


 

3.  Vorstellungen von der Bibel

Dekonstruktion eines Ideals: Sind die biblischen Texte Gottes Worte an dich heute?

 

„Bibel = Wort Gottes?“

„Die Bibel ist das Wort Gottes.“ – Eine Aussage, die man immer noch hört. (Interessant, dass es bei der Glaubensbasis der Ev. Allianz nicht so formuliert worden ist.) – Aber wer dürfte so etwas eigentlich behaupten?

Glaubst du das?

Falls ja, bist du selbst durch das Studium der Texte zu dieser Erkenntnis gelangt oder haben es dir andere über die Bibel gesagt?

Das meiste, was über die Bibel gesagt wird und gesagt worden ist, wird von Menschen gesagt, die keine theologische Ausbildung besitzen, Übersetzungen benutzen und kaum Kenntnisse von Textkritik und der Entstehung der Bibel besitzen.

 

„Wenn ich in Sprachen rede, die von Gott eingegeben sind – in irdischen Sprachen und sogar in der Sprache der Engel – , aber keine Liebe habe, bin ich nichts weiter als ein dröhnender Gong oder eine lärmende Pauke.“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 13,1)

 

„Das Wort Gottes“

Dies ist eigentlich ein symbolischer Ausdruck. – Wir kennen Worte nur als Bestandteile menschlicher Sprache.

Welche Sprache spricht Gott? Keine? Alle? Hat Gott eine Muttersprache?

Paulus erwähnt im eben zitierten Vers im ersten Brief an die Christen in Korinth die Sprache von Engeln. Aber ich kenne eigentlich nur menschliche Sprache.

 

„‚Ihr Männer, liebe Brüder und Väter, hört mir zu, wenn ich mich jetzt vor euch verantworte.‘
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Als sie aber hörten, dass er auf Hebräisch zu ihnen redete, wurden sie noch stiller …“
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(Paulus in der Apostelgeschichte; Neues Testament; 22,1-2)

 

Heilige Sprachen

Von der Religionsgeschichte her kennen wir das Phänomen, dass manchmal Sprachen als „heilig“ betrachtet werden – z.B. das Hebräische im Judentum oder das Arabische des Koran im Islam. Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott sich sprachlich offenbart hat, und das Bewusstsein, dass jede Sprache eine, ihr eigene, Natur besitzt, welche sie von anderen Sprachen unterscheidet.

Wenn Gott eine Sprache erwählt hat, um sich durch sie zu offenbaren, wird diese dadurch heilig. Nicht alle Juden fanden es z.B. so toll, dass ihre heiligen Schriften ins Griechische übersetzt worden waren (Septuaginta), und die Übersetzung des Koran in andere Sprachen ist auch für manche Muslime ein heikles Thema.

Natürliche Sprachen sind lebendig und verändern sich. Gott aber verändert sich nicht. (Oder doch?) – Kann es überhaupt eine heilige Sprache geben? – Beim Hebräischen sehen wir in der Geschichte, wie es über Jahrhunderte zu einer liturgischen Sprache erstarrt gewesen war, bevor es dann in der Neuzeit wiederbelebt wurde. (Wobei das moderne Ivrit nicht mit Biblischen Hebräisch identisch ist.)

Interessant ist, dass im Christentum meines Wissens „heilige Sprache“ nie so richtig ein Thema war. Vielleicht liegt das daran, dass unsere Bibel ja ursprünglich in mehreren Sprachen (Hebräisch, Aramäisch, Griechisch) geschrieben worden ist.

Sind vielleicht irgendwie alle Sprachen heilig? Offenbart sich Gott in den Worten, die Menschen einander sagen und die von Generation an Generation weitergegeben werden? Offenbart er sich vielleicht gerade auch in der lebendigen Veränderung von Sprache?

Im biblischen Narrativ ist die Entstehung von Sprachen ein Schöpfungsakt Gottes:

 

„… Wir werden hinuntersteigen und dafür sorgen, dass sie alle in verschiedenen Sprachen reden. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen!“

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(Bibel / Tanach / Altes Testament, Bereschith / Genesis / 1. Mose 11,7)

 

Kommunikation

Ich bin überzeugt, dass viel zu viel Fromme nicht genug darüber nachdenken, was Kommunikation eigentlich ist, und wie sie funktioniert. – Müsste jemandem, dem die Veränderung von lebendigen Sprachen bewusst ist, es nicht eigenartig und problematisch erscheinen, dass Gott sich in einem Text für alle Menschen aller Zeiten offenbart?

Während ich diese Zeilen schreibe, merke ich ständig, wie schwierig es ist, genau das auszudrücken, was ich sagen will. Es soll ja auch nicht missverstanden werden können. – Wer schreibt, will verstanden werden. – Wir alle kennen das vom SMS- und Briefe-Schreiben. Man möchte nicht zu viele Worte machen, aber auch nicht etwas so verkürzen, dass es missverständlich ist. Jeder, der es gewöhnt ist, öffentlich zu sprechen, oder wer regelmäßig Texte verfasst, dem ist diese Spannung vertraut.

Was man mit Worten ausdrücken kann, ist auch so begrenzt. Wir hätten oft so viel zu sagen … so große Gefühle … tiefe Gedanken …

 

Ich habe noch so vieles auf dem Herzen, aber das möchte ich euch lieber persönlich sagen und nicht schreiben …“

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(Johannes‘ zweiter Brief; Neues Testament; Vers 12)

 

Wer kann die Bibel lesen, wie ein antiker Gläubiger?

Niemand, weltweit, beherrscht die biblischen Sprachen auf muttersprachlichen Niveau. Und diese Situation ist nicht neu. Es war schon immer so, seitdem Bibeln produziert worden sind. – Verlage suchen für Übersetzungen Menschen, welche die jeweiligen Sprachen auf muttersprachlichen Niveau beherrschen. Für Bibel-Übersetzungen kann es solche kompetenten Leute naturgemäß leider einfach nicht geben.

Wer in der Lage ist, zwei Sprachen auf (annähernd) muttersprachlichem Niveau zu sprechen und Bücher im Original und Übersetzung vergleichen kann, der weiß genau, dass eine Übersetzung immer eine Reduzierung bzw. Veränderung des ursprünglichen Inhalts ist. In Bezug auf Bibel-Übersetzungen müsste man hier eigentlich ins Nachdenken kommen – gerade bei so schwer greifbaren Themen wie „Glaube“, „Geist“ und „Frömmigkeit“.

Wir müssen auch davon ausgehen, dass nicht alle Verfasser der biblischen Texte die jeweiligen Sprachen, die sie benutzten, auf muttersprachlichen Niveau beherrscht haben. Das Griechisch, das in der Offenbarung benutzt wird, soll z.B. etwas eigenartig sein. – Konnte der Verfasser kein besseres Griechisch oder hat er den Text absichtlich so geschrieben? – Schwer zu sagen …

Übrigens sprach Jesus mit ziemlicher Sicherheit Aramäisch. Die Evangelien sind aber alle in Griechisch.

 

„Fassungslos hörte jeder die Jünger in seiner eigenen Sprache reden.

‚Wie ist das möglich?‘, riefen sie außer sich. ‚Alle diese Leute sind doch aus Galiläa, und nun hören wir sie in unserer Muttersprache reden …'“

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(Apostelgeschichte 2,6-8)

 

Die Bibel im Original lesen?

Pech gehabt. Die Originale der biblischen Texte haben wir leider nicht mehr. Ist bei antiken Texten eigentlich auch nichts Ungewöhnliches. Von den allermeisten Texten wird allerdings auch nicht angenommen, dass sie heilig sind.

 

„… Wer diesen Worten etwas hinzufügt, dem wird Gott all das Unheil zufügen, das in diesem Buch beschrieben wurde. Und wer etwas von diesen prophetischen Worten wegnimmt, dem wird Gott auch seinen Anteil am Baum des Lebens und an der Heiligen Stadt wegnehmen, die in diesem Buch beschrieben sind.“

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(Offenbarung von Johannes; Neues Testament; 22,18-19)

 

Wie gut sind die Rekonstruktionsversuche?

Schwer zu sagen … – Meines Wissens ist es bisher noch nicht gelungen einen soliden Rekonstruktionsvorschlag für alle Texte herzustellen, weil der zeitliche Abstand zwischen den Handschriften und Originalen zum Teil ziemlich groß ist, und der Zustand relevanter Handschriften teilweise kaum eine eindeutige Rekonstruktion zulassen. In den Bibelübersetzungen sind diese Probleme in der Regel natürlich – das Lesen soll ja einigermaßen „Spaß“ machen – nicht mehr zu erkennen.

 

„Bei Karpus in Troas ließ ich meinen Mantel zurück. Bring ihn mit, wenn du kommst, und ebenso die Buchrollen, vor allem die Pergamente.“

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(Paulus im zweiten Brief an Timotheus 4,13)

 

Gibt es in der Christenheit überhaupt eine einheitliche Bibel?

Weder das Alte noch das Neue Testament ist zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Himmel gefallen, sondern sie sind beide über einen längeren Zeitpunkt entstanden, und die Diskussion über den biblischen Kanon, also die Frage, welche Schriften zur Bibel gehören sollen, hat nie aufgehört. – Diese Aussage ist natürlich abhängig davon, wen man als Christ akzeptiert. Wenn man nur die Gläubigen als Christen anerkennt, welche dieselbe Bibel benutzen, hat man hier keine Probleme.

Wann wurde überhaupt die allererste Bibel hergestellt?

Es geht beim Problem des Kanons hauptsächlich um die Frage der Kanonisierung der alttestamentlichen Texte, also quasi um die Kanonisierung der jüdischen Bibel. – Gab es aber im Judentum überhaupt jemals ein dem evangelikalen Fundamentalismus entsprechendes Bibelverständnis? Und wenn ja, wann? Und wer hat es vertreten? – Mir ist so etwas jedenfalls noch nicht begegnet – außer bei den sogenannten „messianischen Juden“, die das vom Christentum übernommen haben.

Auffällig ist, dass Juden Unterschiede zwischen ihren heiligen Texten machen. Am heiligsten ist die Tora.

Meines Wissens war auch der Kanon der jüdischen Bibel zur Zeit der ersten Christen noch gar nicht abgeschlossen. Juden benutzten damals ja Schriftrollen – und nicht  ein  dickes Buch.

Das Wort „Bibel“ kommt in der Bibel selbst natürlich nicht vor. Die Bibel als „feste“ Sammlung entstand ja erst Jahrhunderte, nachdem der letzte biblische Text verfasst worden war.

 

„… weil du der Stimme von JHWH, deines Gottes, gehorchst und hältst seine Gebote und Rechte, die geschrieben stehen im Buch dieses Gesetzes …

Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse … dass du … wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst …“

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(Bibel / Tanach / Altes Testament; Devarim / Deuteronomium / 5. Mose 30,10-15)

 

„Freeze!“

Jeder biblische Vers ist zu einem festen Zeitpunkt in der Geschichte unter ganz bestimmten sprachlichen und außersprachlichen Rahmenbedingungen in einer festen Form erstarrt und wurde von dem Zeitpunkt an – mehr oder weniger gut – bis heute überliefert. In der Regel lässt sich dieser Zeitpunkt noch nicht einmal genau datieren.

Deshalb ist wissenschaftliche Bibelauslegung und Bibelübersetzung nichts für Anfänger; denn dabei geht es – unter Verwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel – um das Ausloten des Deutungs-Raumes eines Textes. (Schon die Rekonstruktion des Deutungs-Raums der einzelnen altsprachlichen Worte ist nicht einfach – wie Altsprachler wissen.)

Selbst alle „Urtext-Varianten“ des biblischen Textes sind nur Rekonstruktionsversuche, da die historischen Handschriften der biblischen Texte leider nicht in allem übereinstimmen. – Wenn es anders wäre, bräuchte man keine Textkritik.

 

„Von oben kommen nur gute Gaben und nur vollkommene Geschenke; sie kommen vom Schöpfer der Gestirne, der sich nicht ändert und bei dem es keinen Wechsel von Licht zu Finsternis gibt.“

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(Brief von Jakobus; Neues Testament; 1,17)

 

Kontext, Kontext, Kontext

Sprache ist  immer  untrennbar mit einem konkreten, zeitlichen kulturellen Kontext verbunden. Jeder, der schon einmal versucht hat, eine Fremdsprache zu lernen, kann das verstehen. Eine Sprache zu lernen, bedeutet, auch eine Kultur zu lernen.

Manche Worte beschreiben grundlegende menschliche Erfahrungen, wie Atmen, Essen, Laufen, usw. – aber selbst da gibt es Nuancen (tief/flach atmen, schnell/langsam laufen/gehen/rennen …). Andere Worte haben einen sehr spezifischen Kontext, wie z. B. Passah, Abendmahl, Weihnachten, …

Sprache ist grundsätzlich der Veränderung in der Zeit unterworfen, was man sofort merkt, wenn man Luther im Original liest, oder wenn man an die Bedeutung von Worten wie „toll“ oder „geil“ denkt. (Wenn man älter wird, merkt man immer mehr, wie sich die eigene Muttersprache verändert.)

In den religiösen Schriften wird nun der Text durch die Tradition konserviert, aber löst sich zunehmend von dem historischen und sprachlichen Kontext. Es wird zunehmend schwieriger den Text richtig zu interpretieren, da sich Kultur und Sprache des Lesers verändern und Wissen um Anlass und Zusammenhänge des Verfassens der Texte immer mehr abnimmt. Die Gefahr von Missverständnissen steigt.

Um einen Text richtig zu interpretieren, muss man versuchen, den ursprünglichen Kontext zu rekonstruieren. Inwieweit einem das jeweils gelungen ist, kann man kaum überprüfen. – Je fremder einem Leser der ursprüngliche historische Kontext ist, desto schwieriger wird es zu verstehen, was der Verfasser mit dem Text bezwecken wollte.

 

„… wer Freude hat am Gesetz von JHWH und darüber nachdenkt – Tag und Nacht.“

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(Erster Psalm, Vers 2)

 

Die Bibel, ein vollkommenes, fehlerfreies Buch? Eine zuverlässige Quelle der Wahrheit?

Dies dürfte jemand eigentlich nur behaupten, wenn er dies persönlich Text für Text und Vers für Vers überprüft hat. Aber wie sollte so etwas funktionieren? Wir haben ja noch nicht einmal die Originale?

Und was ist mit Wahrheit gemeint? Müssen alle Details einer Erzählung historisch korrekt sein?

Wie wollen wir die Historizität einer biblischen Aussage überprüfen, wenn es dazu gar keine anderen historischen Quellen gibt?

Die Korrektheit historischer Dokumente ist ja auch nicht nur ein theologisches Thema und ist auch immer relativ zum wissenschaftlichen Standpunkt des Historikers. – Und auch „wissenschaftliche Erkenntnis“ verändert sich …

Und wie wollte man als kleiner Mensch die Korrektheit von Aussagen über die Schöpfung oder Gott selbst beurteilen? – Die Frage nach der Wahrheit der Bibel führt ganz tief hinein in grundlegende erkenntnistheoretische philosophische und religiöse Fragen. Wer versucht, sich an diesen Fragen vorbei zu schummeln, leistet sich selbst und anderen einen schlechten Dienst.

Und  selbst wenn  wir sicher sein könnten, dass unsere Bibeln fehlerfrei wären und absolute, göttliche Autorität besäßen, welche praktische Bedeutung hätte dies, wenn wir nicht überprüfen können, ob wir einen Text richtig verstanden haben?

Ist der Glaube an eine vollkommene Bibel nicht nur ein persönliches Glaubensbekenntnis und ein frommer Wunsch mancher Christen, weil wir Menschen so gerne etwas Zuverlässiges haben, an das wir uns klammern und über das wir verfügen können?

Selbst der Apostel Petrus, einer der 12 Jünger von Jesus, soll ja schon vor fast 2000 Jahren geschrieben haben, dass Paulus schwer zu verstehen ist. – Wie können wir da heutzutage sicher sein, dass wir einen Text richtig verstanden haben? Und ist so ein rechthaberischer Umgang mit der Bibel überhaupt sinnvoll und gut?

 

„… Es gibt in ihnen [den Briefen von Paulus] allerdings einige schwierige Stellen. Die werden von unverständigen Leuten missdeutet, die im Glauben nicht gefestigt sind. Aber so verfahren diese Leute ja auch mit den übrigen Heiligen Schriften. Sie verurteilen sich damit selbst zum Untergang.“

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(Zweiter Petrusbrief 3,16)

 

„Ich präsentiere Ihnen: Das WORT GOTTES“

Wie kann ein Mensch Texte, die offensichtlich auch von Menschen geschrieben worden sind und deren Rekonstruktion und Übersetzung von Menschen gemacht worden sind, als „Wort Gottes“ präsentieren? Ist das nicht immer auch ein Anspruch auf Deutungshoheit und Anmaßung göttlicher Autorität für menschliche Interpretationen, Überzeugungen und Meinungen?

Auch das Hören und Lesen biblischer Texte ist immer schon ein Interpretationsvorgang. – Der Sinn von Worten entsteht immer erst durch den Zusammenhang. – Wie groß ist da die Gefahr, dass man anstatt das Reden Gottes aus einem biblischen Text zu hören, doch nur seine eigenen Gedanken hört und sie mit der Stimme Gottes verwechselt?

Die Überzeugung, dass Gott durch heilige Texte zu mir redet, und was er mir durch sie sagt, ist immer auch eine Glaubensentscheidung, die ich dann besser auch vor mir selbst und anderen vertreten kann.

 

„… Es sollten sich nicht so viele in der Gemeinde um die Aufgabe drängen, andere im Glauben zu unterweisen. Denn ihr wisst ja: Wir, die andere lehren, werden von Gott einmal nach besonders strengen Maßstäben beurteilt.“

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(Jakobusbrief; Neues Testament; 3,1)

 

Gott ist kein Schriftsteller

Ganz offensichtlich erheben die meisten Texte in der Bibel gar nicht den Anspruch, dass Gott sie geschrieben oder gesprochen hat. Und bezüglich der Bibelverse, wo der Schreiber sagt „Gott hat gesagt“, können wir ihn leider nicht mehr fragen, was genau er denn damit meint und wie das zustande kam. – Ich kenne persönlich niemanden, der behauptet, dass Gott zu ihm direkt gesprochen hat, und wenn ich mal jemand treffen sollte, würde ich mich wahrscheinlich fragen, was es denn damit auf sich hat.

Die Entstehung vieler biblischen Texte liegt im Dunkel, und wir können oft nur vom Text selbst her versuchen zu rekonstruieren, wer, wann genau, warum, etc. etwas geschrieben hat. Das ist die Aufgabe von Theologen; und die sind oft auch nicht einer Meinung.

Die antike Welt war eine andere als unsere heutige. Die Kulturen waren selbstverständlich polytheistisch geprägt und vor diesem Hintergrund, mit Göttern, Halb-Göttern, Mythen, Orakeln, Ritualen, etc., erzählten Juden und Christen von dem  einen  Gott und der Rettung der Menschheit. – Musste ein Reden von Gott damals nicht notwendigerweise anders sein als heute? Worum geht es beim Leben mit Gott eigentlich?

 

„Gott ist Liebe, und die in der Liebe bleiben, bleiben in Gott, und Gott in ihnen.“

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(Erster Brief von Johannes 4,16b)

 

Jesus war kein Schriftsteller!

Wir glauben an Jesus, aber wir haben keinen einzigen Satz, den Jesus selbst aufgeschrieben hat. Obwohl viele Christen über Jesus reden oder schreiben, habe ich noch nie gehört, dass sich jemand über diese erstaunliche Tatsache Gedanken gemacht hat.

 

“ … der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

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(Paulus im zweiten Brief an die Christen in Korinth 3,6)

 

Probe am Exempel: Paulus erster Brief an die Christen in Korinth

Beispiele sind eine tolle Methode, Dinge zu erklären und ein Gefühl für Themen zu bekommen.

 

„Bei euch bringt es doch tatsächlich jemand fertig, seinen Streit mit einem anderen Gemeindeglied vor einem weltlichen Gericht auszutragen, statt die Sache von denen entscheiden zu lassen, die zu Gottes heiligem Volk gehören!“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 6,1)

 

Manche sagen mit Verweis auf diesen Vers, dass es uns als Christen verboten ist, gegen andere Christen vor Gericht zu ziehen. Das klingt für mich wie ein Verweis auf einen Gesetzestext. Der Text ist aber nicht aus der Tora oder einem anderen biblischen Gesetzestext, sondern aus einem Brief. – Ich finde Paulus‘ Standpunkt auch gut und würde mich dem vom Grundsatz her anschließen. Aber wie kommt jemand darauf, dass diese Worte wörtlich Worte Gottes sind und ein Christ sich deswegen daran halten muss? Nur weil sie in der Bibel stehen?

 

„Nun zu eurer Anfrage im Hinblick auf die, die noch unverheiratet sind. Ich habe diesbezüglich keine ausdrückliche Anweisung vom Herrn; aber weil der Herr mir sein Erbarmen erwiesen und mich in seinen Dienst gestellt hat, könnt ihr meinem Urteil vertrauen …

 Eins ist sicher, Geschwister: Es geht immer schneller dem Ende zu. Deshalb darf es in der Zeit, die uns noch bleibt, beim Verheirateten nicht die Ehe sein, die sein Leben bestimmt …

Wenigstens ist das meine Meinung, und ich denke, dass auch ich den Geist Gottes habe.“

.
(7,25-40)

 

Laut Paulus‘ eigener Aussage sind doch mindestens diese 16 Verse nicht Gottes-, sondern Menschen-Wort! Er beruft sich vorsichtig auf eine gewisse Autorität, eine gewisse Inspiration, aber macht gleichzeitig deutlich, dass er diese Anweisungen  NICHT  direkt von Gott oder Jesus bekommen hat.

Jetzt könnte man natürlich sagen:

„Auch diese 16 Verse sind Gottes Wort – Paulus hat das nur nicht gewusst.“

Oder man könnte sagen:

„Die Bibel ist überall da Gottes Wort, wo nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es nicht Gottes Wort ist.“

Aber werden solch eigenartige Gedankenspiele wirklich der Natur der Texte gerecht? Tragen wir hier nicht ganz offensichtlich unsere eigenen Vorstellungen an die Bibel heran und machen sie uns so zu recht, wie wir sie haben wollen?

 

„Was ich verkünde, ist nicht meine eigene Lehre; es ist die Lehre dessen, der mich gesandt hat. Wenn jemand bereit ist, Gottes Willen zu erfüllen, wird er erkennen, ob das, was ich lehre, von Gott ist oder ob ich aus mir selbst heraus rede.“
.
(Jesus im Johannes-Evangelium 7,17)

 

Heilige Texte im Vergleich:  Die Bibel und der Koran

Für mich war es sehr hilfreich die Bibel mit dem Koran zu vergleichen.

Manche Christen gehen mit der Bibel um, wie manche Muslime mit ihrem Koran umgehen. Es gibt aber deutliche Unterschiede im Charakter der beiden Bücher und in ihrer Entstehung.

Bei Wikipedia heißt es:

 

„Ein wichtiges Kennzeichen des Korans ist seine Selbstreferentialität. Das bedeutet, dass der Koran sich an vielen Stellen selbst thematisiert.“

.
(Wikipedia)

 

In der Bibel finden wir dies so nicht, und können es so auch gar nicht finden, weil die Bibel anders entstanden ist. Die erste Bibel wurde erst Jahrhunderte nach dem Abfassen des letzten neutestamentlichen Textes gemacht. Deshalb gibt es keinen Bibelvers, der die Bibel selbst zum Thema hat.

Wir finden in der Bibel auch  keine einzige  Verheißung oder Andeutung, dass es einmal ein solches heiliges Buch wie die Bibel geben wird!!

Stattdessen lesen wir in der Bibel Verse wie diese:

 

„… Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
.
Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: ‚Erkenne den HERRN‘, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß“

.
(Bibel / Tanach / Altes Testament, Jeremia 31,33-34)

 

„Denkt daran: Der Heilige Geist, mit dem Christus euch gesalbt hat, ist in euch und bleibt in euch. Deshalb seid ihr nicht darauf angewiesen, dass euch jemand belehrt.

Nein, der Geist Gottes, mit dem ihr ausgerüstet seid, gibt euch über alles Aufschluss, und was er euch lehrt, ist wahr und keine Lüge. Darum bleibt in Christus, wie Gottes Geist es euch gelehrt hat!“

.
(Erster Brief von Johannes 2,27)

 

Bibel = Anthologie?

Wie wäre es, wenn wir die Bibel einfach als Anthologie der historisch wichtigsten christlichen Schriften lesen würden? Und wenn auf unseren Bibelausgaben nicht „Heilige Schrift“, sondern „Sammlung der grundlegenden Schriften des Christentums“ stehen würde?

Wie wär’s, wenn anstatt uns über die Inspiration der Bibel zu streiten, wir mehr ausprobieren würden, ob die Texte  uns  zu einem besseren Leben inspirieren? – Jemand hat mal gesagt, dass ihn nicht die Stellen in der Bibel beunruhigen, die er nicht versteht, sondern die, welche er versteht.

 

„Prüft jedoch alles und behaltet das Gute!“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Thessalonich 5,21)

 


 

4.  Über den Umgang mit heiligen Texten

 

Willkür?

Wir alle machen mit den biblischen Texten, was wir wollen. (Wie könnte es auch anders sein?) Wichtig ist, dass wir uns dessen bewusst sind, unsere Motivation klären, uns transparent darüber austauschen und auch bereit sind, selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen und nicht versuchen, sie auf andere abzuschieben.

Bei Gottesvertrauen und Wiedergeburt geht es um Gotteserfahrungen im Menschen. Bibel-Traditionen, Dogmen, traditionelle Glaubensbekenntnisse und „christliche“ Normen hingegen werden von außen an den Menschen herangetragen. Es ist, meiner Meinung nach, von entscheidender Bedeutung, ob ein Mensch die Stimmigkeit dieser äußeren Dinge in sich selbst erfahren kann.

 

„Von diesen Worten [der Predigt über Jesus] waren die Zuhörer bis ins Innerste getroffen:

‚Liebe Brüder, was sollen wir jetzt tun?‘, fragten sie Petrus und die anderen Apostel.

Ändert eure Einstellung‘, erwiderte Petrus …“

.
(Apostelgeschichte 2,37-38)

 

Zwei Aspekte

Beim Umgang mit der Bibel kann man auch wieder zwei Aspekte berücksichtigen:

Zum einen, wie ich die Bibel für mich selbst benutze, und dann, wie ich sie gegenüber anderen benutze. Hängt natürlich auch wieder beides zusammen.

 

„Darum geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern … und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“
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(Matthäus-Evangelium 28,19-20)

 

Biblizismus

Ist es eine den Texten und Sachverhalten angemessene Strategie, alles wörtlich zu nehmen (Biblizismus), außer dann, wenn es offensichtlich nicht funktioniert? Wird die Bibel da nicht zum magischen Zauberbuch? Was für eine Bibel-Ideologie steckt da dahinter?

Lenkt uns das Kopfzerbrechen über Bibelverse und das Streiten über die Bibel nicht ab von dem, worum es eigentlich geht?

Manche biblischen Texte präsentieren sich selbst als das Reden Gottes (z.B. ein Teil der alttestamentlichen Schriftpropheten). Doch die meisten tun dies nicht. Und selbst wenn alle  biblischen Texte sich als direkte Worte Gottes an die Adressaten der Texte präsentieren würden, woher wüssten wir, dass Gott uns heutzutage, 2000 (!) Jahre später, dasselbe durch die Texte sagen will? (Den Menschen in biblischen Zeiten hat Gott ja auch nicht allen dasselbe gesagt. – Vergleicht mal Gottes Anweisungen durch die Propheten Jeremia, Jesaja, etc.)

Und  selbst wenn  er uns heute durch sie dasselbe sagen wollte, wie könnten wir überprüfen, ob wir ihn richtig verstanden haben? Und wie abhängig sind wir im Verstehen biblischer Texte von einem Heer von Textkritikern, Altertums-Wissenschaftlern, Altsprachlern, Bibel-Übersetzern, Bibel-Experten, Theologen, Pfarrern, Pastoren, Predigern, Bibel-Lehrern, Bibel-Gesellschaften, Verlagen, Kommentatoren, … und von kirchlichen Traditionen, persönlichen Prägungen und Glaubensentscheidungen  ANDERER ? Sollte ein gesunder Umgang mit der Bibel uns nicht auch zu mündigen Christen machen, die ihren Glauben selbst verantworten können und nicht auf theologisch Gebildetere verweisen müssen?

Fragen, Fragen, Fragen … und die Antworten, die ich darauf meistens bekomme, laufen darauf hinaus, dass Menschen, die Gottes Geist besitzen, verstehen, was Gott ihnen sagen will. – Aber wozu brauchen wir dann heilige Texte, wenn Gott sowieso seine Kinder unmittelbar durch seinen Geist belebt, inspiriert, Verstehen seines Willens schenkt und leitet?

 

„Alle, die sich von Gottes Geist regieren lassen, sind Kinder Gottes.“

.
(Paulus‘ Brief an die Christen in Rom 8,14)

 

Wie viel Anstrengungen wurden schon von Christen unternommen, um ein fundamentalistisches Bibelverständnis zu verteidigen, das eine mehr als wacklige Grundlage hat. – Lässt sich die Zeit und Kraft nicht besser investieren?

Wenn einem Bibel-Leser heutzutage ein biblischer Text persönlich wertvoll wird, braucht er dann noch eine theologische Theorie, die dies rechtfertigt?

 

“ Die Tora von JHWH ist vollkommen,
sie belebt und schenkt neue Kraft …
.
Die Weisungen von JHWH sind zuverlässig und erfreuen das Herz …
.
Sie lassen sich nicht mit Gold aufwiegen, sie sind süßer als der beste Honig.“
.
(Psalm 19,8-11)

 

Wenn die Bibel so toll ist, warum lesen wir Christen dann nicht mehr darin?

Warum haben so viele Christen Probleme, sich fürs Bibellesen zu begeistern?

Wer kann schon erklären, worum es im langen Jesaja-Buch geht? Oder wann hast du das letzte Mal Leviticus gelesen? – Viele Christen kennen nur ein paar Lieblingsverse.

Ein verehrtes Buch, das im Bücherregal einstaubt. – Biblische Texte sind oft keine gefällige Lektüre.

 

„… die Legenden und endlosen Geschlechtsregister, mit denen sie sich befassen, führen nur zu Spekulationen, statt dass sie den Glauben fördern und damit der Verwirklichung von Gottes Plan dienen.“

.
(Paulus im ersten Brief an Timotheus 1,4)

 

Woher stammt überhaupt die fundamentalistische Bibel-Ideologie?

Die ersten Christen konnte sie offensichtlich noch nicht besitzen, denn da gab es die Bibel ja noch gar nicht.

Wie alt ist das fundamentalistische Bibelverständnis, das uns heute so vertraut ist? Genauer gesagt: Wann hat in der Geschichte das erste Mal jemand die Überzeugung gehabt, dass die 66 Bücher unserer heutigen protestantischen Bibel das fehlerfreie Wort Gottes an alle Menschen für alle Zeit sind, und wie schnell und auf welche Weise hat sich diese Überzeugung ausgebreitet?

Ich hab schon verschiedene Leute gefragt und selbst etwas recherchiert, aber es ist gar nicht so leicht, da ein klares Bild zu bekommen. Scheint ein bisschen komplexer zu sein …

 

 

Hermeneutik

Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen von Texten und ein Bereich der Theologie. Dort scheint man nun mehr und mehr mit allgemeinen literaturwissenschaftlichen Methoden an die Bibel heranzugehen. Ein Ansatz, den ich an sich sinnvoll finde und der sich sicherlich auch schon als fruchtbar erwiesen hat.

Aber braucht man für religiöse, heilige Texte nicht auch eine spezielle religionswissenschaftliche Hermeneutik? Und ist es nicht unbedingt notwendig, religiöse Texte innerhalb ihrer religiösen Tradition zu verstehen? – Die Komparative Theologie und der inter-religiöse Dialog kann uns hier bestimmt auch noch sensibler werden lassen und ein Stück weiter bringen.

Ein angemessener Umgang mit der Bibel muss differenziert sein und der Vielfalt und dem Inhalt der Texte, sowie dem Wissen über die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung Rechnung tragen.

 

„JHWH ernst nehmen, ist der Anfang aller Erkenntnis …“

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(Bibel / Tanach / Altes Testament, Mischle / Sprüche 1,7)

 

Wie können wir richtig leben? Wie sollten wir leben?

Manche Menschen greifen zur Bibel, weil sie Rat und Orientierung suchen in einer immer komplexer werdenden Welt. Religion war traditionell eine der großen gesellschaftlichen Kräfte, die Menschen verbunden und gemeinsames Leben gestaltet hat.

Heutzutage ist Kirche „out“ und Spiritualität „in“ wie schon lange nicht mehr. – Welche Rolle spielt die Bibel dabei?

Die Frage des Bibelverständnis ist eng verbunden mit christlicher Ethik. In den Diskussionen der Christenheit geht es oft um ethische Fragen (Homosexualität, Geschlechterrollen, Scheidung, Abtreibung, …), bei denen dann die entsprechenden Bibelverse in die Diskussion eingebracht werden.

 

„Sündigt deine Schwester oder dein Bruder, so weise sie oder ihn zurecht …“

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(Matthäus-Evangelium 18,15)

 

Ethik – Gebote & Verbote

Die Bibel hat weit mehr als nur eine ethische Dimension. Aber gerade die ethischen Fragen sind oft dafür verantwortlich, dass Christen sich wegen Bibelversen in die Haare kriegen, und sie dominieren manchmal christliche Diskussionen. – Ist das sinnvoll, wenn moralische Fragen im Vordergrund stehen?

Wie müsste ein Umgang mit der Bibel aussehen, damit er bei ethischen Entscheidungen hilfreich ist?

Wenn man sich an einzelnen Bibelversen festbeißt, bleibt man immer in einem antiken Christentum hängen und von Theologen abhängig. Allein wenn sich der christliche Diskurs über biblische Texte mit dem spirituellen Leben des Einzelnen verbindet, kann er wirklich hilfreich sein. Eine Hilfe zur Orientierung ist etwas anderes als eine eindeutige Anweisung.

 

„Wir alle, die der Glaube an Christus zu geistlich reifen Menschen gemacht hat, wollen uns ganz auf dieses Ziel ausrichten. Und wenn eure Einstellung in dem einen oder anderen Punkt davon abweicht, wird Gott euch auch darin die nötige Klarheit schenken.“

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(Paulus im Brief an die Christen in Philippi 3,15)

 

Situationsethik

Die theologische Diskussion um Situationsethik hat ganz viel mit Bibelverständnis zu tun und macht gut das Dilemma zwischen dem Bedürfnis des Menschen nach Rat und Orientierung und dem Umgang mit den biblischen Texten deutlich.

Man hat der Situationsethik, glaube ich, zu Recht vorgeworfen, dass der Mensch damit überfordert ist. Kein Mensch kann in einer Situation rein logisch eine perfekte Entscheidung treffen. Alleine schon deshalb nicht, weil unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit immer begrenzt ist.

Aber wer sagt, dass wir vollkommene Denkfähigkeit besitzen müssen? Oder Vollkommenes leisten? Wie wäre es, wenn wir getragen von Gnade und Vertrauen leben könnten, die der Geist Gottes schenkt? – Und aus vielen Situationen werden wir gar nicht herauskommen, ohne anderen etwas schuldig zu bleiben.

 

„Bleibt niemand etwas schuldig! Was ihr einander jedoch immer schuldet, ist Liebe …“

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(Paulus im Brief an die Christen in Rom 13,8)

 

Der harte Gemeinde-Alltag

Was sollten wir z. B. Lesben und Schwulen heute von der Bibel her sagen? Oder Geschiedenen, die wieder geheiratet haben und vielleicht sogar Kinder aus zweiter Ehe haben? Oder Gläubigen, die mit einem Ungläubigen zusammenleben und ein gemeinsames Kind haben? (Spielen die Kinder in den Bibelversen überhaupt eine Rolle?)

Früher hätte ich bei solchen Fragen fast reflexartig mit der Konkordanz passende Bibelverse gesucht. Heute graut mir vor Christen, die auf alle Fragen eine „passende“ Bibel-Antwort parat haben. Als hätte sich die letzten 2000 Jahre nichts geändert …

 

„…  wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

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(Paulus im zweiten Brief an die Christen in Korinth 3,17)

 

Guter Rat teuer

Es ist natürlich wenig hilfreich, wenn man Menschen nur sagt „da musst du tun, was du für richtig hältst“. Und doch kennt sicherlich jeder viele Situationen, in denen man einfach keinen Rat hat; wo man nur einfach dem anderen zur Seite stehen kann. Aber vielleicht ist die wortlose Unterstützung oft genau das, was der andere braucht, um für sich selbst zu einer Entscheidung zu finden.

In der oben zitierten, „berühmten“ Bibelstelle zur Inspiration (2. Tim. 3,16-17) geht es auch um viel mehr als nur um Wissen über biblische Gebote. Es geht um eine Veränderung des Menschen und Befähigung zum guten Leben.

Wir sind manchmal schwach und möchten uns an andere anlehnen. Aber über kurz oder lang sollte jeder lernen, selbst die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und ein reifer Christ zu werden. Leben bedeutet Veränderung. Wenn ein Mensch nicht reifer wird, stimmt etwas nicht.

 

„Eigentlich müsstet ihr längst in der Lage sein, andere zu unterrichten; stattdessen braucht ihr selbst wieder jemand, der euch die grundlegenden Wahrheiten der Botschaft Gottes lehrt. Ihr habt sozusagen wieder Milch nötig statt fester Nahrung.“

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(Brief an die Hebräer 5,12)

 

„norma normans“

Die Bibel als Norm für Glaube und Leben (siehe „Glaubensbasis der Ev. Allianz“). Ein immer noch aktuelles Thema. – Welche Auswirkungen hatte dieses Denken in der Kulturgeschichte der Menschheit? Und warum gab es gerade im Protestantismus so viele Spaltungen, Konfessionen und Denominationen?

Da es das Christentum schon gab, bevor der erste neutestamentliche Text geschrieben wurde, kann die Bibel keine notwendige Voraussetzung fürs Christentum sein. Es gab unter den ersten Christen allerdings die mündliche Überlieferung, charismatische Gaben und den praktischen Gemeinde-Alltag.

 

„… so hat Christus denn auch seine Gemeinde beschenkt:
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Er hat ihr die Apostel gegeben, die Propheten und Verkündiger der rettenden Botschaft, genauso wie die Hirten und Lehrer, welche die Gemeinde leiten und im Glauben unterweisen. Sie alle sollen die Christen für ihren Dienst ausrüsten, damit die Gemeinde, der Leib von Christus, aufgebaut und vollendet wird.
.
Dadurch werden wir im Glauben immer mehr eins werden und miteinander den Sohn Gottes immer besser kennen lernen. Wir sollen zu mündigen Christen heranreifen, zu einer Gemeinde, die ihn in seiner ganzen Fülle widerspiegelt.“
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(Epheser-Brief; Neues Testament; 4,11-13)

 

Wer braucht heilige Texte?

Wenn Gott der Christenheit ein heiliges Buch als Maßstab hätte geben wollen, warum hat er das dann nicht schon im 1. oder 2. Jahrhundert gemacht? – Zu Pfingsten kam nicht ein Update der Tora, sondern der Heilige Geist! – Jahrhundertelang lebte die Christenheit mit einer Vielzahl von jüdischen und christlichen Texten (von denen viele nicht Eingang in die Bibel gefunden haben), aber ohne eine heilige Bibel.

Bei manchen Menschen befriedigt eine Bibel ein Bedürfnis nach Sicherheit. Aber diese Sicherheit ist trügerisch. Denn der Besitz eines heiligen Buches wird uns nicht retten. Unsere einzige Sicherheit besteht im Wirken Gottes. Dies ist eine Sicherheit des Glaubens.

 

„Darum gleicht jeder, der meine Worte hört und danach handelt, einem klugen Mann, der sein Haus auf felsigen Grund baut …“

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(Bergpredigt, Matthäus-Evangelium 7,24)

 

Heilige Texte und Glaubens-Systeme als Machtinstrumente

Der Glaube an die Bibel ist bei vielen Christen Teil eines theologischen Systems. Ein Glaube an die Bibel (wie auch immer er aussieht) kann allerdings niemals identisch mit dem Glauben der ersten Christen sein, denn die ersten Christen hatten die Bibel noch nicht.

Manche verteidigen solch ein theologisches System und monolithisches Bibelverständnis, das sich im Laufe der Kirchengeschichte herausgebildet hat. Man geht dabei von dem Ergebnis einer Entwicklung aus und schaut durch diese Brille zurück in die Vergangenheit.

Solch ein „christlicher“ Glaube kann dann allerdings kein „biblischer“ Glaube mehr sein – selbst wenn er sich „bibeltreu“ schimpft -, denn er geht ja klar über das hinaus, was wir in den biblischen Texten selbst lesen und stülpt ihnen eine deutlich jüngere Bibel-Ideologie über.

Warum machen Menschen das?

Es ist interessant sich anzuschauen, welchen Einfluss der Römische Kaiser und die „Verstaatlichung des Christentums“ unter Konstantin auf die Entstehung der Bibel hatten.

Heilige Texte, Rituale, Sakramente, etc. lassen sich kirchlich verwalten. Der Heilige Geist jedoch nicht.

 

„Der Wind weht, wo er will. Du hörst zwar sein Rauschen, aber woher er kommt und wohin er geht, weißt du nicht. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“

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(Jesus im Johannes-Evangelium 3,8)

 

Das beste Projekt zum Thema Bibel und christlicher Glaube, das ich kenne, ist das Worthaus-Projekt. Zimmer sagt da auch was zu „Brillen“ und einem unverstellten Blick:

 

 

Subjektivität

Wenn es uns wirklich um die Sache Jesu geht und nicht um die Verteidigung unseres eigenen persönlichen theologischen Standpunkts, müssen wir bereit sein, unsere theologische Theorie zu hinterfragen – egal wer und wie viele diesen Standpunkt mit uns vertreten oder in der Vergangenheit vertreten haben.

Natürlich kann jeder für sich persönlich an eine perfekte Bibel glauben. – Es gibt auch Amerikaner, die glauben, dass die King-James-Bible die einzig richtige Bibel ist. – Aber mit welchem Recht oder welcher Begründung darf ich andere dazu drängen, dass auch so zu sehen oder sie auffordern, die Konsequenzen, die ich persönlich ziehe, auch zu ziehen?

 

Liebe ist geduldig, Liebe ist freundlich. Sie kennt keinen Neid, sie spielt sich nicht auf, sie ist nicht eingebildet. Sie verhält sich nicht taktlos, sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sie verliert nicht die Beherrschung, sie trägt keinem etwas nach.
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Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht, aber wo die Wahrheit siegt, freut sie sich mit. Alles erträgt sie, in jeder Lage glaubt sie, immer hofft sie, allem hält sie stand.
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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 13,4-7)

 

Verantwortung

Alles bis jetzt Gesagte zwingt mich dazu, vorsichtig und mit Bescheidenheit über die biblischen Texte zu sprechen. In unserem Umgang mit und Reden über die Bibel muss auch die Begrenztheit und Unvollkommenheit unseres Verstehens zum Ausdruck kommen.

Wenn ich mich von Gott oder meinem Gewissen zum Reden gedrängt fühle, aber mir gleichzeitig die Fehlerhaftigkeit meines Verstehens bewusst ist, stehe ich in einer Spannung, die sich nicht auflösen lässt; und wir brauchen Kraft und Gnade, diese Spannung auszuhalten.

 

„Gottes Wort ist voller Leben und Kraft. Es ist schärfer als die Klinge eines beidseitig geschliffenen Schwertes, dringt es doch bis in unser Innerstes, bis in unsere Seele und unseren Geist, und trifft uns tief in Mark und Bein. Dieses Wort ist ein unbestechlicher Richter über die Gedanken und geheimsten Wünsche unseres Herzens.“

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(Brief an die Hebräer 4,12)

 

Wenn biblische Texte wie ein besonders scharfes Schwert sein können, sollten wir vorsichtig damit umgehen.

Wenn ich das Gefühl habe, mit meinem Auto stimmt vielleicht was nicht, sollte ich vorsichtig weiterfahren oder vielleicht sogar anhalten. Ähnlich ist es mit unserem Bibelverständnis.

Es geht bei diesen Fragen auch nicht um akademische Spielereien, sondern es geht um Sinn und Sinnlosigkeit, Glaube und Verzweiflung, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod. Um die größten Fragen eines Menschen und der Menschheit.

 

„Wenn keine Offenbarung da ist, verwildert ein Volk …“

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(Mischle / Sprüche 29,18)

 

Nebenbemerkung: Autobiographisches

Gemeinde Christi – Church of Christ (non-instrumental)

 

Ich bin in einer kleinen Freikirche aufgewachsen, einer „Gemeinde Christi“. Das ist eine Denomination, die nach dem 2. Weltkrieg durch amerikanische Missionare nach Deutschland gekommen ist. In den USA heißen diese Gemeinden „Churches of Christ“ (non-instrumental) und die Ausbildungsstätten Pepperdine University, Abilene University, Harding University u.a. sind mit ihnen affiliiert. Die sogenannte „Boston-Bewegung“ / „International Churches of Christ“ sind aus ihnen hervorgegangen.

Entstanden ist diese Denomination aus dem sogenannten „restoration movement“ im 18. Jahrhundert in den USA. Bei den Pionieren, die nach Westen drängten und dort ihre Äcker absteckten, entstand ständig die Situation, dass in einem Dorf Menschen zusammen kamen, die durch unterschiedliche christliche Traditionen geprägt waren.

Damals hatten ein paar Christen (ganz im Sinne der Renaissance – „zurück zu den Quellen“) die Idee, man müsste die Spaltung in der Christenheit überwinden können durch eine Rückkehr zu den Wurzeln. Bald kam es in dieser Bewegung selbst dann allerdings auch wieder zu Spaltungen und neuen Denominationen.

Die Churches of Christ haben das Ziel, neutestamentliches Christentum zu verwirklichen und leben in der Vorstellung, dass sie dies erreichen, indem sie die Bibel möglichst wörtlich nehmen und sogar das Vorbild der ersten Christen als verbindlich für alle Christen ansehen. Dies hat u.a. dazu geführt, dass sie den Gebrauch von Musikinstrumenten im Gottesdienst ablehnen (daher „non-instrumental“).

Die Vielfalt der Meinungen in der frühen Christenheit wird kaum wahrgenommen und die in den neutestamentlichen Schriften zum Ausdruck kommenden Ansichten werden als normativ fürs Christentum aller Zeiten angesehen. Unstimmiges und Widersprüchlichkeiten werden „harmonisiert“. Der protestantische Kanon wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Mit Christen anderer Konfessionen und Denominationen wird grundsätzlich nicht zusammengearbeitet, da die anderen ja nicht so „biblisch“ und damit potentielle Nicht-Wiedergeborene oder sogar Irrlehrer sind.

Heute kann ich kaum noch nachvollziehen, wie unkritisch ich das damals geglaubt habe. Aber wir sind halt alle durch unsere persönliche Geschichte geprägt und glauben, was wir glauben wollen …

 

„… YHWH ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …“

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(Psalm 23,1-2)

 

5.  Die Stimme Gottes im Herzen des Menschen

 

„… In das Herz des Menschen hat er den Wunsch gelegt, nach dem zu fragen, was ewig ist. Aber der Mensch kann Gottes Werke nie voll und ganz begreifen …“

.
(Bibel / Tanach / Altes Testament, Kohelet / Prediger 3,11)

 

„Kür“

In „will-kür-lich“ stehen auch die Buchstaben „k-ü-r„.

 

„Ihr wisst doch, wie es ist, wenn in einem Stadion ein Wettlauf stattfindet: Viele nehmen daran teil, aber nur einer bekommt den Siegespreis.

Macht es wie der siegreiche Athlet:

Lauft so, dass ihr den Preis bekommt!“

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 9,24)

 

In manchen Wettkampf-Sportarten gibt es einen Pflicht- und einen Kür-Teil. Im Kür-Teil haben die Sportler viel Freiheit, ihn kreativ zu gestalten – nach ihren Stärken und Schwächen und Vorlieben.

Menschen sind keine Inseln. Wir sind soziale Lebewesen und sind für ein gemeinschaftliches Leben „programmiert“. In der Gemeinschaft müssen Interessen und Bedürfnisse ständig ausgehandelt werden, und die Frage nach der Identität der Gruppe, also das, was verbindet, ist von existentieller Bedeutung.

Auch in religiösen Gemeinschaften findet ein ständiges Ausbalancieren statt: Sowohl im Leben des Einzelnen, als auch im gemeinsamen Leben. In diesem Ausbalancieren haben die Tradition und heilige Texte ihre Bedeutung – aber auch die gelebte, private Spiritualität des einzelnen Gläubigen.

Die Kunst der „sportlichen Frommen“ ist nun die „Kür“: Das kreative Gestalten dieses Ausbalancierens – sowohl im Leben des Einzelnen, als auch im Leben der Gemeinschaft. Dabei müssen sowohl die Bedürfnisse des Einzelnen als auch die der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Das organische Bild des Körpers kann hier viel Orientierung geben.

Durch den Austausch über die heiligen Texte entsteht eine Diskurs-Gemeinschaft. Tradition verbindet und sorgt dafür, dass Traditions-Linien nicht abreißen und kulturelle Kontinuität gewährleistet sind. Es ist aber die erlebte Spiritualität des Einzelnen und die Stimmigkeit dieser religiösen Erfahrungen, aus denen sich das religiöse Leben speist.

Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Dort, wo kein geistliches Leben erfahrbar ist, wird auch bald kein geistlicher Mensch mehr hingegen.

Wenn wir einen Bibeltext lesen, versuchen wir in der Regel ihn so zu deuten, dass er wertvoll für uns wird. Das ist ja auch wirklich sinnvoll. – Das Leben ist hart, und wir brauchen Quellen der Kraft und der Inspiration.

 

„… das Reich Gottes gründet sich nicht auf Worte, sondern auf Gottes Kraft.“

.
(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth 4,20)

 

Beim Lesen geht es ja nicht nur um das „richtige“ Verstehen dessen, was der Verfasser ursprünglich vermitteln wollte, sondern es geht darum, dass ich Gott zu mir reden lasse. Ein kontemplatives Lesen, welches schon eine lange Tradition hat:

 

 

Je mehr mein Wille und mein Denken mit dem Wirken Gottes in unserer Welt und in meinem Leben übereinstimmt, desto mehr höre ich das Reden Gottes durch die biblischen Texte.

 

Ihr seid zur Freiheit berufen … dient einander in Liebe! …
.
Lasst den Geist Gottes euer Leben bestimmen …
.
… die Frucht, die der Geist wachsen lässt, ist: Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. Dagegen hat das Gesetz nichts einzuwenden.
.
(Paulus an die Christen in Galatien, 5,13-23)

 

Dem, was dem gemeinsamen Leben, was  allem  Leben dient, kann auch ein Reden Gottes durch heilige Texte nicht widersprechen.

Einfach gemeinsam leben.

 

[Dies ist die neuere Überarbeitung meines ersten Blog-Artikels, welchen ihr hier findet.]

 

Ich bin nicht gut im Leiden.

 

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Tragödien-Maske an der Fassade des Königlichen Dramatischen Theaters in Stockholm; von Holger.Ellgaard via Wikimedia Commons – CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

 

Die alte Leier …

Es hat mich erwischt. Eine Erkältung. – Nicht gerade dramatisch; aber schon drängt sich die alte Frage wieder auf: Wie war das  doch mit Gottes Liebe und dem Leiden? Könnte Gott das Leben für seine Kinder nicht ein bisschen angenehmer gestalten?

Schon mein Heuschnupfen ist manchmal eine ziemliche Belastung. Zahn- und Kopfschmerzen sind auch nicht gerade toll. Gleichzeitig ist das Jammern natürlich auch ein bisschen peinlich, wenn man an all die Menschen denkt, die wirklich richtig  schwer  zu leiden haben. Aber wenn man sowieso schon Stress hat und total optimiert an der Grenze seiner Kräfte operiert, dann ist eine Erkrankung manchmal gerade noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Wenn man allerdings dann noch ein bisschen über den eigenen Tellerrand schaut, erhält die Frage nach dem Leid noch eine ganz andere Dimension:

 

 

 

… Wer erkennt, dass der HERR es ist, der diese mächtigen Taten vollbringt?
.
Gott ließ seinen Diener emporwachsen wie einen jungen Trieb aus trockenem Boden. Er war weder stattlich noch schön. Nein, wir fanden ihn unansehnlich, er gefiel uns nicht! Er wurde verachtet, von allen gemieden. Von Krankheit und Schmerzen war er gezeichnet. Man konnte seinen Anblick kaum ertragen. Wir wollten nichts von ihm wissen, ja, wir haben ihn sogar verachtet.
.
Dabei war es unsere Krankheit, die er auf sich nahm; er erlitt die Schmerzen, die wir hätten ertragen müssen …
.
(Bibel / Tanach / Altes Testament, Jesaja 53. Kapitel, Verse 1-4)

 

Professionelles Leiden

Ich war zum Glück noch nie so richtig schwer krank. Einmal hatte ich allerdings so starke Zahnschmerzen, dass ich es kaum noch aushielt.  –  Ich bin nicht gut im Leiden.

Es gab allerdings einmal einen echten Profi im Leiden. Ist sogar deutsches Kulturgut geworden: Die Hiobs-Botschaft. Ein Mann, der Nachrichten bekommen hat, die selbst dem gestandensten Mann den Boden unter den Füßen weghauen können. Hiob hatte alles verloren: Seinen Besitz, seine Kinder und seine Gesundheit.

 

„Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!“
Er [Hiob] aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden …
.
(Tanach / Altes Testament, Hiob 2, 9-10)

 

Pardon,  fast  alles. Seine Frau hatte er noch. – Die hatte übrigens ja auch alles verloren.  Es waren ja wohl auch ihre Kinder bei denen mit dabei gewesen, die umgekommen waren. (Scheint wohl eine patriarchalische Erzählung zu sein). Und seine Frau hatte ihren Glauben an Gott anscheinend schon aufgegeben. (Falls sie überhaupt fromm gewesen war). Sie, die Hiob allein übrig geblieben war, gibt ihm dann noch, als er dann heftig krank wird, diesen Rat, sich von Gott zu verabschieden und ins Gras zu beißen.

 

Ohne eigenes Verschulden sind alle Geschöpfe der Vergänglichkeit ausgeliefert, weil Gott es so bestimmt hat.
.
Aber er hat ihnen die Hoffnung gegeben, dass sie zusammen mit den Kindern Gottes einmal von Tod und Vergänglichkeit erlöst und zu einem neuen, herrlichen Leben befreit werden. – Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung jetzt noch leidet und stöhnt wie eine Frau in den Geburtswehen.
.
(Paulus im Brief an die Christen in Rom; Bibel, Neues Testament; 8,20-22)

 

Gott und unser Leid

Hiob jedoch blieb Gott treu. Aber er schleuderte Gott seine Anklagen entgegen.

Im hebräischen Original soll das Buch sogar so krass sein, dass ein jüdischer Rabbiner wohl mal gesagt hatte, mal sollte das Buch besser nicht alleine, sondern mindestens zu zweit lesen. – Wahrscheinlich, damit man nicht seine Fassung oder sogar seinen Glauben verliert.

Hiob ist eins meiner Lieblingsbücher in der Bibel. Hier wird nichts beschönigt. Auch der Deal zwischen Gott und Satan erscheint etwas absurd. So absurd wie das Leben manchmal.

Nebenbei bemerkt: Ich glaube nicht, dass dieses Buch ein Beleg dafür ist, dass Männer besser sind im Leiden als Frauen. – Es gibt auch  Glaubensheldinnen  in unseren biblischen Texten; auch wenn die Texte sicherlich alle stark von den patriarchalischen Kulturen geprägt sind.

 

… „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

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(Jesus am Kreuz)

 

Die Theodizee

Theodizee“ (wörtl. „Gerechtigkeit Gottes“ oder „Rechtfertigung Gottes“) ist „Theologen-Deutsch“ für die Frage, wie das Böse und Leid in der Welt mit einem allmächtigen, liebenden Gott zu vereinbaren sind. Den besten Vortrag, den ich dazu kenne, findet ihr bei Worthaus:

 

 

 

Je stärker wir durch uns bedrängendes Leiden auch emotional unter Druck geraten, desto heftiger wird auch unsere Vorstellung von einem liebenden Gott auf die Probe gestellt. Wenn wir uns Gott als lieben, allmächtigen Papa im Himmel vorstellen möchten, dann ist die Frage, warum er bei all dem grausamen, täglichen Leid nicht eingreift, und warum er überhaupt so eine Welt erschaffen hat, kaum zu ertragen.

 

Dann begann Hiob zu reden und verfluchte den Tag seiner Geburt.

.
(Hiob 3,1)

 

Lebendiger Glaube

Einer der bedeutendsten Bibelforscher unserer Zeit, Bart D. Ehrman, ist wohl vor allem wegen der Frage nach dem Leid zum Agnostiker geworden, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er einen evangelikalen Hintergrund hatte.

Wäre es nicht besser, wenn ein lebendiger Glaube sich verändert und wächst, als dass er an der Wirklichkeit zerbricht?

Wie müsste solch ein Glaube beschaffen sein?

 

Jetzt sehen wir nur ein undeutliches Bild wie in einem trüben Spiegel. Einmal aber werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.

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(Paulus im ersten Brief an die Christen in Korinth, 13,12)

 

Vollkommener Gott – mangelhafter Glaube

Gott ist per Definition vollkommen. Absolut. Die letzte Realität, die nach allem Hinterfragen noch übrig bleibt. Der Urgrund allen Seins.

Unsere Vorstellungen von Gott sind jedoch mangelhaft. Manche Menschen verwechseln ihre Gottesvorstellungen mit dem, was Gott selbst ist, und machen sich so einen Götzen – der nicht tragen kann. – Vielleicht kann gerade die immer wieder auftauchende und unser Leben begleitende Frage nach dem Leid  uns auch  – wie damals Hiob – in eine tiefere Gotteserkenntnis führen.

Menschliche Gottesvorstellungen sind immer auch geprägt durch die autobiographische und kulturelle Geschichte. Die immer bekannter werdende Integrale Theorie liefert auch ein Modell diese Zusammenhänge besser zu verstehen. Wenn sich unsere Gottesvorstellung ändert, erscheint auch die alte Theodizee-Frage in einem neuen Licht.

Die biblischen Texte beschreiben Gott als eine geheimnisvolle Macht, die nicht unabhängig von unserer Welt in einer Art „Parallel-Universum“ existiert, sondern in unserer Welt gegenwärtig ist. Ein Gott, der in den Lobgesängen seines Volkes wohnt und sich in der Geschichte der Menschheit verwirklicht. Ein lebendiger Gott. Ein Gott des Lebens. Und mit unserem Leben verändert sich auch unsere Vorstellung von ihm – oder ihr  😉

 

Heilige Texte

Interessant ist, dass das Reden von und über Gott im Judentum deutlich vorsichtiger ist, als im Christentum. Der Name Gottes, das Tetragramm „YHWH“, wird traditionell nicht ausgesprochen. Auch haben viele Christen das Bilderverbot vom Judentum übernommen.

Bei unseren Gottesvorstellungen wird es immer auch um die wichtige Frage gehen, wie wir mit dem Reden von und über Gott in der jüdisch-christlich Tradition und in unseren heiligen Texten umgehen, und in welchem Ausmaß wir bereit sind, uns auf die Lebenswelt und Kulturen der Menschen von heute einzulassen.

 

Gott ist Liebe; und die in der Liebe bleiben, bleiben in Gott, und Gott in ihnen.

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(Erster Brief des Johannes, 4,16b)

 

Freiwilliges Leiden

Das Christentum beruht auf Leid; das Leiden eines Mannes, der schwer gelitten hat, und dieses Leid sogar  freiwillig  auf sich genommen hat:  Jesus aus Nazareth.

Was bringt einen Menschen dazu,  freiwillig  Leiden auf sich zu nehmen?

Die biblischen Erzählungen von der Hinrichtung von Jesus sind keine freudestrahlenden Heldengeschichten eines das Leid umarmenden Gottes, der mit geschwollener Brust zu seiner Folter schreitet. Jesus nahm das Leid nicht furchtlos und todesverachtend auf sich, sondern hatte Todesangst und suchte nach einem Ausweg.

 

… „Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“
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Und er riss sich von ihnen los, etwa einen Steinwurf weit, und kniete nieder, betete  und sprach:
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„Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“
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Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er geriet in Todesangst und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.
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Und er stand auf von dem Gebet und kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend vor Traurigkeit …
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(Lukas-Evangelium 22,40-45)

 

Jesus musste gewusst haben, was für eine ungeheure Provokation sein Erscheinen in Jerusalem für das religiöse Establishment war: Der Einzug in Jerusalem, sein Auftreten im Tempel …

 

„Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“

„Mein Haus soll ein Haus des Gebets sein!“

 

Und er lehrte täglich im Tempel.

Doch es gab für Jesus keinen anderen Weg, als den Willen Gottes zu tun. Für alle Menschen.

 

Bibel. Jetzt. (8) – Kontext, Kontext, Kontext

 

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Leinengewebe, by Dee.lite [Public domain], via Wikimedia Commons

 

Zeit und Fantasie sind wichtig zum Verstehen der Bibel („Bibel. Jetzt.“, Teil 1+2). Kontext ist auch wichtig, und Kontext bedeutet „Zusammenhang“. Ich hätte also schreiben können: Zusammenhang, Zusammenhang, Zusammenhang – etwas mühsam.

 

… So hat es euch ja auch unser lieber Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben, und dasselbe sagt er in allen Briefen, wenn er über diese Dinge spricht. Einiges in seinen Briefen ist allerdings schwer zu verstehen …
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(Bibel, Neues Testament, Zweiter Brief von Petrus, 3, Kapitel, Verse 15-16)

 

Kontext

Wikipedia erklärt:

 

„Kontext (Sprachwissenschaft), alle Elemente einer Kommunikationssituation, die das Verständnis einer Äußerung bestimmen“

 

Kontext spielt eine Rolle, wenn man miteinander redet und auch wenn man Texte liest. „Kontext“ ist alles, was für das Verstehen einer Äußerung wichtig ist. Man spürt, was damit gemeint ist, wenn man einen Brief (oder E-Mail) schreibt. Während ich schreibe, frage ich mich: Wird der andere das auch so hören, wie ich es sage? – Er hört ja gar nicht den Ton meiner Stimme, sieht nicht das Lächeln oder das Zwinkern mit den Augen …

 

Was würde ich darum geben, gerade jetzt bei euch zu sein und im Gespräch mit euch den richtigen Ton zu finden! Denn ich weiß mir keinen Rat mehr mit euch.

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(Neues Testament, Paulus‘ Brief an die Christen in Galatien, 4,20)

 

Missverständnisse

Und manchmal gibt es Missverständnisse. Ironie ist besonders problematisch. Und das Konservieren von Gedachtem oder Gesprochenem in einem Text funktioniert nicht immer perfekt. Es geht meistens etwas verloren.

 

 Ja, es ist offensichtlich, dass ihr ein Brief seid, den Christus selbst verfasst hat und der durch unseren Dienst zustande gekommen ist. Er ist nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, und die Tafeln, auf denen er steht, sind nicht aus Stein, sondern aus Fleisch und Blut; es sind die Herzen von Menschen.

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(Paulus‘ zweiter Brief an die Christen in Korinth, 3,3)

 

Mit einem Text beim Leser die gewünschte Wirkung zu erzielen ist eine Kunst, und je größer und vielfältiger die Leserschaft desto schwieriger. Je größer der zeitliche und kulturelle Abstand desto schwieriger.

 

Versuche der Rekonstruktion von schriftlicher Kommunikation

Dies alles ist keine spezifisch biblische oder theologische Problematik. Sie ist rein sprachlich. Es ergeben sich aus ihr allerdings wichtige Fragen an die Auslegung aller religiösen Texte, gerade auch die Auslegung der sehr alten:

Inwieweit lässt sich überhaupt der Kontext rekonstruieren? Wie kann man sie heute noch verstehen? Wie wahrscheinlich ist es, dass wir sie richtig verstehen, oder: Wie können wir überprüfen, ob wir richtig verstanden haben? …

Allein diese paar Fragen sollten schon deutlich machen, wie vorsichtig wir mit Formulierungen sein sollten, wie „die Bibel sagt…“ oder „aus der Bibel kann man lernen …“

 

Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.

(Paulus‘ zweiter Brief an die Christen in Korinth, 3,6)

 

Ein anderer Weg

Und noch eine ganz wichtige Frage: Gibt es vielleicht noch einen anderen Zugang zur Bibel als den „wissenschaftlichen“, theoretischen? Wie können wir als „Laien“ oder auch als Profis sinnvoll mit der Bibel umgehen?

 

… bloßes Wissen macht überheblich. Was uns wirklich voranbringt, ist die Liebe.

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(Paulus‘ erster Brief an die Christen in Korinth, 8,1)

 

[Fortsetzung folgt … (hoffentlich).]

 

Zurück zu:  Bibel. Jetzt. (7)  –  Ähnliches Thema:  GANZHEITLICHES BIBELVERSTÄNDNIS

 

Was hat Hebräisch mit dem Christentum zu tun?

 

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By W.pseudon (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)%5D, via Wikimedia Commons

 

Wenn man einen Juden fragen würde, so würde dieser vielleicht antworten: „Gar nichts!“ – Das stimmt so natürlich nicht ganz. Die allerersten Christen waren ja alle Juden (auch wenn Juden aus Galiläa vielleicht Juden zweiter Klasse waren), Jesus (Jeschua) war ihr Rabbi und Hebräisch war die Sprache ihrer heiligen Texte.

Aber es gibt leider sehr viele Gründe, weshalb die Beziehung zwischen Christen und Juden belastet ist. Eine Verbesserung dieser Beziehung könnte zum Segen für die ganze Menschheit werden – immerhin sind statistisch ein Drittel der Weltbevölkerung Christen.

Die Überwindung der Kluft zwischen Juden, dem auserwählten Volk Gottes, und den anderen Völkern wurde schon in den Texten des Neuen Testaments als einer der bedeutendsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte gewertet.

 

… Ihr seid Gott jetzt nahe, obwohl ihr vorher so weit von ihm entfernt lebtet. Durch Christus haben wir Frieden. Er hat Juden und Nichtjuden in seiner Gemeinde vereint, die Mauer zwischen ihnen niedergerissen und ihre Feindschaft beendet …
(Bibel, Neues Testament, Paulus‘ Brief an die Gemeinde in Ephesus, 2. Kapitel, Verse 13-14)

 

Hebräisch

Mehr als alle anderen Sprachen ist Hebräisch die Sprache „unserer christlichen“ Bibel, und damit auch die grundlegende Sprache der jüdisch-christlichen Überlieferung vom Glauben an den einen Gott und seinem Messias/Christus (bzw. Messiassen). – Auch wenn manche Liebhaber der King-James-Bible  mit dem Gedanken liebäugeln, ob die wahrhaft göttlich inspirierte Sprache nicht vielleicht doch Englisch ist.

Die meisten biblischen Texte wurden ursprünglich in Hebräisch verfasst, und auch die heiligen Texte der ersten Christen waren fast alles hebräische Texte. (Ein paar Textabschnitte im Alten Testament sind in Aramäisch.)

 

mündlich – schriftlich

In antiken Gesellschaften war Schreiben ein Luxus, der nur von einer kleinen Elite beherrscht wurde. Parallel zur Textproduktion gab es eine breite mündliche Erzähltradition, von der uns natürlich nur das überliefert ist, was in Textform für die Nachwelt erhalten blieb. Hebräisch war zunächst nur eine gesprochene Sprache; und auch nach der Erfindung von hebräischer Schrift war der weit überwiegende Sprachgebrauch selbstverständlich mündlich.

 

Aramäisch

Wie alle Sprachen, so hat auch Hebräisch eine Herkunft und Geschichte. Und wie alle anderen lebendigen Sprachen auch, so hat auch Hebräisch Einflüsse aus anderen Sprachen aufgenommen. Die augenscheinlichste Folge „fremder“ Einflüsse ist die hebräische Quadratschrift selbst, welche noch heute in Gebrauch ist. Diese Schrift wurde vom Reichsaramäisch entlehnt, das Verkehrssprache im Persischen Reich war und auch noch lange nach Alexander dem Großen große Bedeutung in der Region hatte.

Aramäisch war sicherlich auch die Muttersprache Jesu, und wir finden Spuren davon auch im Neuen Testament. (So sind z.B. die letzten Worte Jesu „Eli, Eli, lama asabtani“ ein Zitat aus dem 22. Psalm in  aramäischer  Übersetzung.)

 

 Gegen drei Uhr rief Jesus laut: »Eli, Eli, lema sabachtani?« Das heißt übersetzt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

(Neues Testament, Markus-Evangelium 15,34)

 

Griechisch

Mit Alexander breitete sich die griechische Sprache und der Hellenismus im Mittelmeerraum aus, sodass bald auch unter den Diaspora-Juden der Bedarf an griechischer Übersetzung wuchs. Es war dann die Septuaginta, die  große Bedeutung als griechische Übersetzung der hebräischen heiligen Texte erlangte.

Jeder, der schon einmal eine Fremdsprache gelernt hat, weiß, dass es unmöglich ist, eine andere Sprache zu lernen, ohne nicht auch etwas mit der fremden Kultur vertraut zu werden. Sprache transportiert Kultur und ist an sie gebunden.

Der kulturelle Druck, der durch die verbreitete griechische Sprache und dem Hellenismus auf die jüdische Tradition ausgeübt wurde, war enorm, und die Übertragung der heiligen Texte in eine fremde Sprache war eine große Herausforderung. – Bei Übersetzungen geht zwangsläufig immer etwas verloren bzw. wird verändert.

Es ist nur selten möglich den Spielraum für Deutung und Assoziation exakt in einer anderen Sprache zu reproduzieren. – Wie übersetzt man überhaupt ein grammatikalisches System, das grundsätzlich ein bisschen anders funktioniert? – Während Hebräisch und Aramäisch semitische Sprachen sind, ist Griechisch (und auch Latein, Deutsch, Englisch, …) eine indoeuropäische Sprache.

 

Latein

Nach den Griechen kamen die Römer, und in der Kirchengeschichte gewann Latein zunehmend an Bedeutung. Der im Judentum und der hebräischen Sprache verwurzelte Glaube an Jesus den Messias wurde in „fremden“ Sprachen gedacht, formuliert, gepredigt und erklärt. – Ist dabei vielleicht etwas Wesentliches verloren gegangen? Ist „theos“ oder „deus“ derselbe wie JHWH? Und hatten Christen beim Titel „Christus“ noch dieselben Assoziationen wie Juden beim erwarteten Maschiach?

Ich habe 2015 angefangen ein bisschen Hebräisch zu lernen und empfinde es als wunderbare Bereicherung zum Verstehen der biblischen Texte. (Ist allerdings wirklich nicht einfach.) Auch mit Hebräisch-Kenntnissen und dem „Urtext“ lassen sich allerdings nicht alle Fragen beantworten. Auch führt das gründlichere Studium der biblischen Texte nicht automatisch zu mehr oder besserem Glauben.

 

Heilige Texte

Schreiben von Gott ist der stammelnde Versuch mit Worten menschlicher Kategorien das Geheimnis des ewigen Gottes mit Buchstaben auf Papier zu heften. – Wie funktioniert so etwas überhaupt? Und wie kann es dann noch in eine andere Kultur übertragen werden? Ist das mündliche inspirierte Wort vielleicht besser als alte Texte? Solange Erzählungen noch mündlich überliefert werden, können sie sich an eine veränderte Wirklichkeit anpassen. Wenn sie erst in Textform erstarrt sind, veralten sie, während das Leben weitergeht …

Alle Buchreligionen haben das Problem, dass sich göttliche Offenbarung nicht auf vollkommene Weise in Texten konservieren lässt, weil Sprache sich verändert und erfolgreiche Kommunikation immer vom Zusammenhang abhängt. – Sollte das „richtige“ Verstehen der uralten heiligen Texte wirklich einer kleinen Elite von Altertumswissenschaftlern und Philologen vorbehalten sein, die den ursprünglichen Sinn noch am ehesten rekonstruieren können?

Paulus gab schon vor fast 2000 Jahren einem Mitarbeiter einen Rat:

 

 … Damals habe ich dich gebeten, in Ephesus zurückzubleiben und dafür zu sorgen, dass bestimmte Leute dort keine falschen Lehren verbreiten. Sie sollten sich nicht mit uferlosen Spekulationen über die Anfänge der Welt und die ersten Geschlechterfolgen befassen; denn das führt nur zu unfruchtbaren Spitzfindigkeiten, anstatt dem Heilsplan Gottes zu dienen, der auf den Glauben zielt. Jede Unterweisung der Gemeinde muss nämlich zur Liebe hinführen, die aus einem reinen Herzen, einem guten Gewissen und einem aufrichtigen Glauben kommt. Davon haben sich einige abgewandt und haben sich in leeres Gerede verloren. Sie wollen Lehrer des göttlichen Gesetzes sein; aber sie wissen nicht, was sie sagen, und haben keine Ahnung von dem, worüber sie so selbstsicher ihre Behauptungen aufstellen.

(Die Bibel, Neues Testament, der erste Brief von Paulus an Timotheus, 1. Kapitel, Vers 3-7)

 

Authentisch von Gott reden

Wir brauchen ein gründlicheres Nachdenken über göttliche Offenbarung und darüber, wie wir authentisch von Gott reden können – erfasst vom Wirken Gottes in dieser Welt und himmlisch inspiriert. Vielleicht könnte man dann das traditionelle Theologisieren auf niedrigem Niveau überwinden.

Die kolossalen kulturellen Umbrüche, die wir heute erleben, sind eine riesige Chance, das Wesentliche am christlichen Glauben neu zu entdecken. Ein besseres Verstehen unserer jüdischen Wurzeln hilft dabei auch.

 

Integrale Theologie

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Auf der Welt vorherrschende Religionen, nach Staaten – Quelle: Wikipedia; von Neitram [public domain]

„Integrale Theologie“ (oder „integral theology“). – Macht der Ausdruck Sinn? Braucht man, wenn man von der Integralen Theorie ausgeht, überhaupt noch Theologie?

Falls ja, wie müsste eine Integrale Theologie dann aussehen?

Theologie

Was war das noch mal, „Theologie“?

Theologie (griechisch θεολογία theología, von θεός theós ‚Gott‘ und λόγος lógos ‚Wort, Rede, Lehre‘) bedeutet „die Lehre von Gott“ oder Göttern im Allgemeinen und die Lehren vom Inhalt eines spezifischen religiösen Glaubens und seinen Glaubensdokumenten im Besonderen.

(Wikipedia)

Theologie an wissenschaftlichen Einrichtungen ist oft konfessionelle Theologie (Ev. Theologie, Kath. Theologie, …) und beschäftigt sich viel mit alten Dingen: Alte Sprachen, antike heilige Texte, Alte Geschichte, Kirchengeschichte, …

Was aber ist mit der religiösen Alltagswirklichkeit und der Zukunft? Müsste die praktische Theologie und die Eschatologie nicht mehr Gewicht in der theologischen Ausbildung haben? Wie sieht es aus mit dem praktischen Lebensbezug von Theologie und mit visionären Ansätzen für Kirche und Welt?

Es gibt einen z.T. riesigen Unterschied zwischen der „offiziellen“ Religion (Positionen, die von etablierten religiösen Institutionen wie den großen Kirchen vertreten werden) und der alltäglich erfahrenen und gelebten Religion ihrer Anhänger. Dazu kommt in einer globalisierten Welt die Herausforderung, jeden Tag gemeinsam mit Menschen unterschiedlicher religiösen Überzeugungen zu leben, zu arbeiten, Politik zu betreiben …

Qualitätskontrolle

Religiöse Einrichtungen scheinen sich manchmal als „von Gott gegeben“ zu verstehen und zeigen wenig Interesse an der Überprüfung der Qualität ihrer Arbeit. Dabei ist doch ganz entscheidend, was am Ende dabei herauskommt.

 Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten.
Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.
An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen.
(Bibel, Neues Testament, Matthäus-Evangelium, 7. Kapitel, Verse 17-20)

Bei manchen Anhängern der Integralen Theorie ist der Integrale Weg die Antwort auf ein besonders tiefes Erlebnis, eine außergewöhnliche Belastung oder eine persönliche Krise. In guter biblischer Tradition wird hier die Hilfe Gottes als Rettung aus Not erfahren. Die Kraft Gottes zeigt sich ja gerade in ihrer Wirkung – und nicht in Dogmen oder Glaubenssätzen.

Die Frucht hingegen, die der Geist Gottes hervorbringt, besteht in Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Rücksichtnahme und Selbstbeherrschung. Gegen solches Verhalten hat kein Gesetz etwas einzuwenden.
(Paulus‘ Brief an die Christen in Galatien 5,22-23)

Integrale Theorie

Das „Integrale“ an der Integrale Theorie ist u.a., dass ältere Weltdeutungen nicht bekämpft, sondern integriert werden. So bleiben die unterschiedlichen religiösen und Weisheits-Traditionen nicht sich gegenseitig ausschließende Standpunkte, sondern werden zu sich ergänzenden Zugängen zur Wirklichkeit. Mit Tradition wird nicht gebrochen, sondern es wird an sie angeknüpft und sie wird in ein tieferes und weiteres Verstehen des Lebens geführt.

Es gibt sie schon.

Integrale Theologie ist eigentlich schon längst keine Theorie mehr. Sie wird schon betrieben. (Auch wenn sie an Universitäten bis jetzt kaum zu finden ist. – Warum wohl?)

Paul R. Smith, z.B., war jahrelanger Pastor einer Southern Baptist Gemeinde (evangelikal-konservativ). Unter seiner Pastorenschaft entwickelte sich die Gemeinde zu einer integralen Gemeinde. Er hat mittlerweile auch zwei Bücher vorgelegt, in denen er die Integrale Theorie auf die christliche Tradition und die biblischen Texte anwendet.

Seit Mai 2021 liegt auch ein empfehlenswertes Buch zu Integraler Theologie auf Deutsch vor:

Von der Anmut der Welt – Entwurf einer integralen Theologie

verwurzelt

Der Blick zurück ist wichtig. Man sollte nur nicht in der Vergangenheit hängen bleiben und das Leben verpassen. Der Blick zurück ist wichtig, um mit den eigenen Wurzeln verbunden zu bleiben und die Kontinuität von Tradition in einer Kultur zu gewährleisten.

Auch die Liebe zu meinen Mitmenschen gebietet, Veränderungen so zu vollziehen, dass Menschen, die nicht so schnell mitkommen, sich nicht als Heimatlose und Entwurzelte in einer „schönen neuen Welt“ wiederfinden und irgendwie auf der Strecke bleiben.

Wir brauchen Integrale Theologen, die nicht nur den Wert Integraler Theologie erkennen, sondern auch den Wert der Theologie und der religiösen Traditionen, die Menschen bis heute Halt gegeben haben.

Schalom – Frieden – Ganzheit

Big History. Es geht um das ganz Große: Die Vollendung der Schöpfung und des Wirkens Gottes.  Integrale Theologie, als religions-philosophischer und post-konfessioneller Ansatz, könnte ein Weg sein, um alle bisherigen Traditionen und Theologien umfassender und tiefer zu verstehen und einen Weg in die Zukunft der Menschheit zu weisen.

Vielleicht könnte eine Integrale Theologie einen Beitrag leisten, um Kulturen miteinander zu versöhnen und Frieden zu schaffen.

 Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

(Bergpredigt, Matthäus-Evangelium 5,9)

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Ist euer frommer Knoten schon geplatzt?

 

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Alexander der Große zerschneidet den Gordischen Knoten, by Andre Castaigne – Died 1930 (Public Domain) [Public domain], via Wikimedia Commons
 

 

Schwer zu verstehen:  Auch Menschen, die es wirklich ernst mit Gott meinen, verknoten sich, stecken fest und kommen nicht weiter; fahren immer wieder gegen dieselbe Wand oder bewegen sich im Kreis. Auch Gespräche zwischen Frommen bleiben oft deprimierend und festgefahren. Wir zerren an den Schnüren der theologischen Argumente und wundern uns, dass sich der Knoten nicht lockert.

 

… Wenn der HERR nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der HERR nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.

(Bibel, Tanach / Altes Testament, 127. Psalm, Vers 1)

 

Knoten

Knoten im Kopf und Knoten im gemeinsamen Leben. Ich habe beides schon erlebt und daran gelitten. Entschlossenheit und Willenskraft reichen manchmal nicht, um einen Knoten zu entheddern.

Nicht alle Knoten kriegt man auf, und manche Knoten sind einen abgebrochenen Fingernagel auch gar nicht wert. Spannungen und Konflikte gehören zum Leben, und an manchen Knoten führt kein Weg vorbei. Aber das Schwert oder die Schere der Gewalt machen kaputt.

 

Wenn ihr jedoch wie wilde Tiere aufeinander losgeht, einander beißt und zerfleischt, dann passt nur auf! Sonst werdet ihr am Ende noch einer vom anderen aufgefressen.

(Bibel, Neues Testament, Paulus‘ Brief an die Christen in Galatien, 5. Kapitel, 15)

 

Die Logik eines Knotens

Mit Logik und Verstand allein lässt sich die Wirklichkeit nicht vollständig erfassen. Mit Logik allein, lässt sich auch nicht jeder Knoten lösen.

Auch ein Mensch, der ein Thema noch nicht so gründlich durchdacht hat wie ich, hat ein „Recht“ auf seine Meinung, und es ist nicht gesagt, dass er seine Position einfach aufgeben kann oder dies tun sollte.

 

Ein Mann hat einmal erzählt:

Ich habe zu meiner Frau gesagt:

„Ich kann dir 10 Gründe geben, warum dein Standpunkt falsch ist.“

Seine Frau antwortete: „Ist mir egal. Ich weiß, dass ich recht habe!“

Es verstreicht eine gewisse Zeit und der Mann kommt zu der Erkenntnis, dass seine Frau wirklich Recht gehabt hatte. Er denkt darüber nach und sagt dann zu seiner Frau:

„Du hattest Recht. Ich kann dir 10 Gründe geben, warum du Recht gehabt hattest …“

 

100%ig logisch sind Argumente bestenfalls in meinem eigenen, persönlichen, subjektiven, individuellen Denkgebäude, in dem Denk-System, das ich verteidige. Keine Garantie, dass das auch die absolute Wahrheit ist. Und jemand, der die Voraussetzungen seines eigenen Denkens gar nicht kennt, ist kaum in der Lage, die Relativität seines Denkens wahrzunehmen. Jemand, der von anderen Voraussetzungen ausgeht oder andere Schwerpunkte setzt, wird die Dinge vielleicht anders sehen.

 

Die Lösung

Knoten verschwinden oft nicht von alleine. Manchmal könnte ich auch gar nicht abwarten, sondern brauche sofort eine Lösung. Deswegen werde ich aktiv: Ich bewege mich, verändere etwas, investiere Zeit und Mühe, gehe auf andere zu …

Manchmal hat man Glück: Man zieht kräftig an den Schnürsenkeln und der Knoten löst sich auf. Funktioniert aber leider bekanntlich nicht immer. – Interessant wäre eine Statistik, wie häufig kräftiges Ziehen an den Schnürsenkeln zum Erfolg führt.  😉  – Das Risiko ist natürlich immer, dass der Knoten danach noch fester ist, und ich noch mehr Mühe habe, den wieder auf zu kriegen. Manchmal entscheidet man sich lieber gleich fürs vorsichtige Fummeln anstatt aufs unsichere Glück zu spekulieren.

 

Der Herr, der heilige Gott Israels, hat zu euch gesagt:

»Wenn ihr zu mir umkehrt und stillhaltet,
dann werdet ihr gerettet.
Wenn ihr gelassen abwartet und mir vertraut,
dann seid ihr stark.«

Aber ihr wollt ja nicht.

(Tanach / Altes Testament, Jesaja 30,15)

 

offen und lernbereit

Manche Probleme entstehen durch unsere Macken. Wir sind so voll und satt und halten uns für superschlau. Kein Platz mehr für Veränderungen. Keine Bedürftigkeit.

 

Du bildest dir ein: ›Ich bin reich und habe alles, was ich brauche. Mir fehlt es an nichts!‹

Da machst du dir selbst etwas vor! Du merkst gar nicht, wie jämmerlich du in Wirklichkeit dran bist: arm, blind und nackt.

(Neues Testament, Offenbarung 3,17)

 

Buße tut not. Umdenken.

Wenn wir weich und formbar wären in der Hand unseres Schöpfers, dann könnte er aus uns bestimmt etwas Brauchbares machen …  😉 – und wir würden uns dann sicherlich auch nicht so leicht gemeinsam verknoten.

 

gemeinsam

Wenn mehrere Schnüre involviert sind (was ja in der Regel der Fall ist), reicht es auch nicht aus einen einzelnen Schnürsenkel zu massieren, sondern es müssen sich alle Senkel bewegen. Manchmal sind es auch gar nicht die Inhalte, sondern persönliche Empfindlichkeiten und menschliche Härte, die Gespräche sich festfahren lassen. Wenn sich  alle  um einen behutsamen Umgang und Flexibilität bemühen, entstehen manche Knoten gar nicht erst.

Überzeugungen sind nicht verhandelbar, Interessen allerdings schon; und man kann auch mit unterschiedlichen Überzeugungen zusammenleben und so manches zusammen machen. Wir tun dies jeden Tag.

 

Doch ihr müsst mit dieser Freiheit, die ihr habt, behutsam umgehen, damit ihr nicht einem Bruder oder einer Schwester mit einem ängstlicheren Gewissen schadet.

(Paulus‘ erster Brief an die Gemeinde in Korinth, 8,9)

 

 

Ambiguitätstoleranz

Dies ist wohl eins der schönsten Wörter, die ich je gelernt habe. Begegnet ist es mir auf dem Blog von Tobias Faix:

„Mehr Ambiguitätstoleranz bitte! Oder wie ein kleines pädagogisches Konzept bei großen theologische Streitigkeiten helfen kann.“

Wie würden sich unsere Gemeinden und unsere Diskussionen wohl anfühlen, wenn wir mehr Ambiguitätstoleranz hätten?

Das Leben ist nicht schwarz-weiß, sondern bunt und vielfältig; und die Wirklichkeit erschließt sich sicherlich am besten multiperspektivisch. Oft gibt es auch ganz praktisch mehr als zwei Möglichkeiten. Wenn wir ein Schwarz-Weiß-Denken überwinden könnten, wäre schon viel gewonnen.

 

Gelassenheit

Wenn ich glaube, dass nicht alles von mir abhängt, sondern vielmehr vom Wirken Gottes, sollte ich doch eigentlich mit meinen persönlichen Ambitionen auch etwas lockerer umgehen können, anstatt anderen damit auf den Senkel zu gehen.

Vertrauen in Gott bringt Gelassenheit und Hoffnung. Kontemplation und Zeit helfen uns Dinge zu erahnen, die wir mit dem Verstand nicht in den Griff kriegen.

 

… wenn ihr in irgendeinem Punkt anderer Meinung seid, wird Gott euch auch darüber Klarheit schenken. Aber lasst uns auf jeden Fall auf dem Weg bleiben, den wir als richtig erkannt haben.

(Paulus‘ Brief an die Gemeinde in Philippi 3,15-16)

 

Der weite Blick

So manche Verwirrung löst sich auf, wenn man einen Schritt zurück tritt und die Sache mit Abstand betrachtet. Jemand, der im Glauben fest steht und dessen Sicherheit Gott ist, der kann auch den Mut zu Gedankenspielen haben: Was wäre wenn …?

Seine eigenen (auch theologischen) Überzeugungen zu hinterfragen, heißt nicht, sich von Gott zu distanzieren. Manchmal müssen wir, um Gott näher zu kommen, uns von vertrauten Denkmustern entfernen. Einen einzigen Schritt zurückzugehen reicht manchmal nicht. Vielleicht sind mehrere Schritte nötig, damit der Blick weit genug ist, um alles Wesentliche zu erfassen. Vielleicht muss man sogar den ganzen Weg zurücklaufen bis zur letzten Weggabelung, um einen anderen Gedankengang auszuprobieren.

Etwas, das ich in manchen frommen Kreisen vermisse, ist SELBST-kritische Distanz, Neugier und ein reifes Problembewusstsein. Der eigene Blick ist verengt, und die Welt aus den Augen eines anderen zu sehen, erscheint als gefährlich oder sogar sündhaft. Der Knoten im eigenen Kopf wird gar nicht wahrgenommen, und die Ursache für Meinungsverschiedenheiten wird natürlich immer beim andern gesehen.

 

Warum siehst du jeden kleinen Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?

(Matthäus-Evangelium 7,3)

 

Ups …

(Ich erwische mich selbst auch immer wieder dabei, dass ich ungeduldig und fordernd im Umgang mit anderen bin. – Ist unsere Freiheit wirklich auch die Freiheit der Andersdenkenden?)

 

Ein unverstellter Blick

Das beste Bibel-Projekt, das ich zur Zeit kenne, ist Worthaus. Ein wesentlicher Gedanke bei diesem Projekt ist, dass wir alle die Bibel durch unsere individuellen, subjektiven „Brillen“ lesen. Wichtig ist deswegen, uns unserer Brillen bewusst zu werden, um zum Wesentlichen der Texte durchzudringen.

Manchmal helfen auch ein großer Erfahrungsschatz und ein gutes Verständnis, worauf es im Leben ankommt. Der beste und umfassendste Ansatz, den ich kenne, ist die Integrale Theorie. Mittlerweile ist sie zum Glück auch in der deutschsprachigen Christenheit angekommen:

 

Ken Wilber hat einmal klug bemerkt, dass wir alle elitär starten, aber egalitär landen. Dort allein, in der egalitären Verbundenheit mit allen, sind menschliche Gemeinschaft, Zusammenhalt, Weisheit und Mitgefühl möglich. Das ist die normale und natürliche Richtung menschlichen Wachstums.

(Richard Rohr im Vorwort von „Gott 9.0„)

 

Aus den Tiefen herauf und vom Himmel herab

Die meisten Menschen haben sicherlich schon einmal die Erfahrung gemacht, dass sich ein Problem gelöst hat, ohne dass sie sich selbst anstrengen mussten. Informationen sortieren sich in unserem Gehirn und Dinge klären sich in den Tiefen unserer Seele, ohne dass wir uns darüber bewusst sind. Plötzlich ist alles klar, und wir wissen gar nicht, wie das passiert ist. Antworten kommen von irgendwo her zu uns und Dinge in unserem Leben fügen sich zu einander.

Wo ist das Problem?

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.

(Paulus‘ Brief an die Gemeinde in Philippi 4,7)

 

Tipps & Tricks

Habt ihr noch Ideen, wie man Knoten wegkriegt? Manche Leute sind besonders gut darin, Knoten zu entheddern. Könnt ihr uns ein paar Tipps geben, wie man das am besten macht?

 

… ein außergewöhnlicher Geist, Verstand und die Fähigkeit, Träume zu deuten, Rätsel kundzutun und Knoten zu lösen, haben sich bei Daniel gefunden …

(Daniel 5,12)

 

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Maria Knotenlöserin, Gemälde von Johann Georg Melchior Schmidtner (1625-1705),
via Wikimedia Commons – Public domain

 

[Dies ist die neuere Überarbeitung eines älteren Artikels, welchen ihr mit Kommentaren hier findet.]